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    Paradise
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Paradise

    Ein gelungener Netflix-Sci-Fi-Blockbuster – aus Deutschland!

    Von Ulf Lepelmeier

    Was wäre, wenn in der nahen Zukunft der Alterungsprozess nicht nur gestoppt, sondern sogar rückgängig gemacht werden könnte – und zwar, indem man die verfügbare Lebenszeit von einer Person zur anderen transferiert? Regisseur Boris Kunz („Drei Stunden“) trug diese Idee (gemeinsam mit den Drehbuchautoren Peter Kocyla und Simon Amberger) jahrelang mit sich herum, bis schließlich doch endlich jemand Interesse zeigte und schließlich sogar Netflix mit einstieg.

    Hochkarätig besetzt, ist „Paradise“ nun eine gelungene Sci-Fi-Produktion aus Deutschland, die gerade zu Beginn mit der Einführung in die dystopische Welt des möglichgemachten Lebenszeittransfers begeistert. Die Thriller-Elemente samt Verfolgungsszenen und Actioneinlagen fallen dann aber im weiteren Verlauf doch eher konventionell aus.

    AEON-Chefin Sophie Theissen (Iris Berben) lässt sich für die Entwicklung der Lebenszeittransfer-Technologie feiern – konnte aber persönlich noch nicht davon profitieren.

    In der nahen Zukunft arbeitet Max (Kostja Ullmann) für das Biotech-Unternehmen AEON, das den Lebenszeittransfer entwickelt hat. Seine konkrete Aufgabe besteht darin, mögliche Spender*innen davon zu überzeugen, dass sie ihre Lebenszeit gegen Geld eintauschen sollten. Aber dann brennt die teure Wohnung von Max und seiner Frau Elena (Marlene Tanczik) ab – und Elena hat ohne Max‘ Wissen Lebenszeit als Sicherheit für das Wohnungsdarlehen hinterlegt. Nun muss sie nach richterlichem Beschluss 38 Lebensjahre direkt hergeben.

    Verzweifelt wendet sich Max direkt an die mächtige AEON-Chefin Sophie Theissen (Iris Berben). Aber trotz seiner Bitten wird Elena schon bald ein Großteil ihrer verbliebenen Lebenszeit entzogen und die erhoffte gemeinsame Zukunft des Paares scheint endgültig verwirkt. Doch dann erfährt Max, wer eigentlich von dem Zeittransfer profitiert hat – und greift zu extremen Maßnahmen, um der nun stark gealterten Elena (jetzt: Corinna Kirchhoff) ihre gestohlene Zeit zurückzuholen…

    Auf den Spuren eines anderen Netflix-Hits

    Der Near-Future-Thriller „Paradise“ hat nicht nur etwas von einer ausgedehnten Episode der Netflix-Anthologie-Serie „Black Mirror“, er basiert auch auf einer ähnlichen Prämisse wie „In Time – Deine Zeit läuft ab" aus dem Jahr 2011. Allerdings ist die Welt von „Paradise“ um einiges näher dran an unserer heutigen Lebenswirklichkeit, während der Hollywood-Film mit Justin Timberlake und Amanda Seyfried eine fortgeschrittenere Zeittransfer-Technologie behandelt, bei der die Lebenszeit das Geld als Währung bereits vollständig abgelöst hat. In „Paradise“ ist der Austausch von Lebenszeit hingegen immer noch mit einem operativen Eingriff verbunden, den AEON patentiert hat.

    Zudem müssen die beiden Personen für den Lebenszeitaustausch genetisch zu einem gewissen Grad kompatibel sein, so dass ein Zeit-Deal nicht nur an finanzielle, sondern damit auch an medizintechnische Voraussetzungen geknüpft ist. Sophie Theissen, die Entwicklerin des Systems und CEO von AEON steckt einen großen Teil der Gewinne dann auch direkt in die Weiterentwicklung der Technologie, um den Zeittransfer zu vereinfachen. Das Publikum bekommt das Unternehmen und den Prozess dabei von der Chefin persönlich vorgestellt, wenn sie in einer an Apple-Events erinnernden Präsentation das Goldene Zeitalter der Ewigen Jugend heraufbeschwört und zugleich eine neue Stiftung vorstellt, die allen Nobelpreisträger*innen umsonst zusätzliche Lebensjahre verschaffen soll.

    Max (Kostja Ullmann) setzt wirklich alles daran, seiner Ehefrau ihre „gestohlene“ Lebenszeit zurückzugeben.

    Doch lässt sich der Verlust von Lebenszeit überhaupt in irgendeiner Weise bepreisen und damit moralisch vertreten? Wie verändert ein möglicher Lebenszeittransfer gegen Geld die Gesellschaft und was bedeutet ein Verlust von Jahren und eventuell ganzer Jahrzehnte für Betroffene und deren Angehörige? „Paradise“ offenbart zu Beginn durchaus ein Interesse hinter diesen spannenden, hinter der Fassade lauernden Fragen – und etabliert so eine faszinierend-dystopische Welt. Den extremen Alterungsprozess von Elena mitzuerleben und zu sehen, wie Max damit umzugehen versuchen, ist emotional aufwühlend und tieftraurig.

    Zwischen den drei Hauptdarsteller*innen Kostja Ullmann („Mein Blind Date mit dem Leben“), Marlene Tanczik und dann später Corinna Kirchhoff („Der vermessene Mensch“) stimmt die Chemie: Das Trio versteht es insbesondere im als Sci-Fi-Drama konzipierten ersten Drittel, die persönliche Betroffenheit der Figuren herauszuarbeiten. Die Rolle von „Der Nachname“-Star Iris Berben fällt hingegen um einiges kleiner aus, als man – auch in Anbetracht ihrer prominenten Position auf dem Poster – vermuten würde. Sie bringt aber in jedem Fall das nötige Charisma für die mächtige Firmenchefin von AEON mit – und scheint zudem mächtig Spaß an der Darstellung der durchtrieben-abgründigen Geschäftsfrau zu haben.

    Hintenraus nehmen die Schwächen zu

    Nach ihrer extremen Alterung möchte Elena eigentlich nichts anderes, als sich mit ihrer neuen Lage als Frau im gehobenen Alter zu arrangieren. Aber als Max von einem im Untergrund agierenden Arzt in Litauen hört, der Zeittransferoperationen durchführt, setzt er alles daran, diesen aufzusuchen und die die verlorene Lebenszeit seiner Frau zurückzuholen. Von nun schaltet „Paradise“ in den Modus eines mal mehr, mal weniger gelungenen Katz-und-Maus-Spiels um.

    Gerade die Actioneinlagen wissen dabei nicht unbedingt zu überzeugen. Der Sicherheitsapparat der angeblich wohlhabendsten Familie Europas wird dabei zunächst als überaus anfällig und unprofessionell porträtiert, um später Züge einer Privatarmee anzunehmen. Dass fast jede relevante Figur zum Ende hin dann auch ihren moralischen Kompass – teils sehr plötzlich – noch einmal neu ausrichtet, erscheint ebenfalls etwas zu forciert.

    Fazit: „Paradise“ punktet mit einer spannenden Prämisse, starken Schauspielleistungen und einer emotional packenden ersten halben Stunde, bevor er dann doch in ein eher konventionelles Sci-Fi-Action-Thriller-Format wechselt. Aber selbst das trübt den Unterhaltungswert dieser deutschen Netflix-Produktion mit sozialkritischen Zügen nicht allzu sehr.

    Wir haben „Paradies“ beim Filmfest München 2023 gesehen, wo er in der Reihe Spotlight zu sehen war.

     

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