The Gorge
Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
3,5
gut
The Gorge

Viel zu selten: Endlich ein gelungener Streaming-Blockbuster

Von Lutz Granert

Seit 2005 veröffentlicht der Journalist Franklin Leonard jährlich eine Liste von bislang unverfilmten, aber vielversprechenden Drehbüchern, die sich häufig durch besonders originelle Ideen auszeichnen. Auf der sogenannten Black List landeten schon Skripts zu späteren Oscar-Preisträgern wie „Argo“ und „The Revenant“ – und eben auch „The Gorge“ von Autor Zach Dean („The Tomorrow War“). Mit seiner ebenso simplen wie unheilschwangeren Prämisse schaffte es das Skript im krisengeschüttelten Corona-Jahr 2020 auf die Liste, als viele Führungskräfte Hollywoods ihren plötzlich freien Terminkalender zum Schmökern von Film-Ideen nutzten.

Das Drehbuch war dann auch für „Sinister“-Regisseur Scott Derrickson ein entscheidender Grund, zu dem Projekt zu stoßen, das im Mai 2023 in London in Produktion ging. Schließlich sei „The Gorge“ ein großer Event-Film fernab von etablierten Film-Reihen und Franchises mit einer originellen Story, der mehrere Genres miteinander vermische. Konkreter wurden er und auch der produzierende Streaming-Service Apple TV+ selbst in den Trailern nicht, die mit vagen Andeutungen auskommen, was genau da wohl im dichten Nebel einer bewachten Schlucht lauern könnte. Schließlich zieht der mit Miles Teller und Anya Taylor-Joy hochkarätig besetzte Genre-Mix aus Science-Fiction, Horror-Thriller und Romanze gerade aus diesem Ungewissen seine Spannung – und so werden auch wir in dieser Kritik Spoiler vermeiden.

Drasa (Anya Taylor-Joy) und Levi (Miles Teller) müssen erfinderisch werden, um die Schlucht zwischen sich zu überwinden. Apple TV+
Drasa (Anya Taylor-Joy) und Levi (Miles Teller) müssen erfinderisch werden, um die Schlucht zwischen sich zu überwinden.

Nach einem erfolgreichen Attentat auf ein Staatsoberhaupt bezieht die russische Scharfschützin Drasa (Anya Taylor-Joy) einen streng geheimen Posten auf der Ost-Seite einer tief eingeschnittenen Schlucht. Für die Besetzung des gegenüberliegenden Wachturms auf der West-Seite rekrutiert die US-Geheimdienstmitarbeiterin Bartholomew (Sigourney Weaver) den ehemaligen Militärscharfschützen Levi (Miles Teller). Beide sollen ein Jahr lang mit Waffengewalt dafür sorgen, dass eine rätselhafte Bedrohung unter den Nebelschwaden nicht an die Oberfläche gelangt – und beginnen sich in ihrer Einsamkeit trotz Kommunikationsverbots anzufreunden.

Ein persönliches Treffen endet jedoch fatal: Als Levi an einem über dem Abgrund gespannten Seil auf seine West-Seite zurückkehren will, stürzt er in die Tiefe – und Drasa springt hinterher, um ihn zu retten. So lüftet das Duo notgedrungen das gut gehütete Geheimnis, was zum Teufel in der Schlucht nun eigentlich genau vor sich geht...

Schleimige Erinnerungen an einen Sci-Fi-Klassiker

„The Gorge“ wurde zwar an Schauplätzen in Norwegen gedreht, diese kommen allerdings nur bei Märschen durch die Wälder und die Gebirgslandschaft wirklich zur Geltung. In den meisten Szenen wurden die in den Warner Bros. Studios in Leavesden gebauten Wachturm-Sets hingegen mit einem Green-Screen-Hintergrund vervollständigt. Ein allzu künstlich anmutender Trick, der bei den zahlreichen Kranfahrten heran an die Balkons der emporragenden Betonbauten deutlich ins Auge sticht. Sobald jedoch die ersten Kreaturen angreifen und sich (später) die Geschehnisse in die nebelverhangene Schlucht verlagern, überzeugen die Effekte gerade durch das Zusammenspiel von CGI- mit schaurig-schleimigen Make-Up-Effekten und dreckig-überwucherten Setdesigns umso mehr. Das erinnert dann im besten Sinne an James Camerons Action-Feuerwerk „Aliens“ aus dem Jahr 1986.

So ist etwa eine riesige fleischfressende Pflanze, aus der sich Levi nur mit Mühe und Waffengewalt befreien kann, nur eine Augenweide von vielen, die der oscarnominierte Kameramann Dan Laustsen („Shape Of Water“) in atmosphärisch dichten, zuweilen düsteren Bildkompositionen einzufangen versteht. Auch ein paar Jump Scares schleichen sich bei den Szenen in der Schlucht in den zwischenzeitlich Richtung Horror-Thriller kippenden und nicht immer ganz logischen Genre-Mix, bei dem auch mal eine im Geheimlabor offen herumliegende Filmdose mit überdeutlicher Aufschrift zum Erkenntnisgewinn des Duos beitragen muss. Aber immerhin: Man kann Derricksons Begeisterung für das Skript verstehen, denn die zentrale Enthüllung, was sich wann tief unten in der Schlucht abgespielt hat (und immer noch abspielt), ist tatsächlich überraschend und in sich stimmig.

Nach „Furiosa: A Mad Max Saga“ mausert sich Anya Taylor-Joy auch in „The Gorge“ immer mehr zu veritablen Action-Heldin! Apple TV+
Nach „Furiosa: A Mad Max Saga“ mausert sich Anya Taylor-Joy auch in „The Gorge“ immer mehr zu veritablen Action-Heldin!

Auch wenn Regisseur Scott Derrickson nach „The Black Phone“ und „Erlöse uns von den Bösen“ eher als Horror- und Suspense-Spezialist gilt, gelingt es ihm fast schon traumwandlerisch sicher, innerhalb kurzer Zeit zwischen – zumindest auf den ersten Blick – wenig passenden Genre-Elementen zu wandeln. So räumt er auch der Kommunikation der beiden einsamen Scharfschütz*innen mit selbst geschriebenen Schildern und Ferngläsern über die Schlucht hinweg viel Zeit ein, nur um durch einen plötzlichen Überraschungsangriff aus der Tiefe mit reichlich bleihaltiger Action Nadelstiche in die fragile Figurenbeziehung zu setzen.

Und gerade, als nach etwa der Hälfte der Laufzeit das Erzähltempo bei einem romantischen Abend mit Kaninchen-Braten und einem Tanz zu „Spitting Off The Edge Of The World“ endgültig zu erlahmen und das Schluchten-Rätsel in Vergessenheit zu geraten droht, erwischt er das Publikum eiskalt. Derrickson schaltet unverhofft in den Sci-Fi-Gruselmodus, der vom unheilvoll-experimentellen Brummen und Dröhnen von Trent Reznor und Atticus Ross (die bereits den oscarprämierten Soundtrack zu „The Social Network“ beisteuerten) druckvoll, wenn auch etwas aufdringlich angetrieben wird.

Auch die Stars liefern ab

Die Chemie zwischen den beiden ungleichen Hauptfiguren stimmt! Miles Teller („Top Gun: Maverick“) legt den poetisch begabten Levi sowohl rational-nachdenklich als auch humorvoll an, wenn er etwa mit seinen Schusskünsten protzt. Anya Taylor-Joy („Das Damengambit“) gibt die russische Scharfschützin zunächst etwas undurchsichtig, doch ihre unterkühlte Art legt sie alsbald ab und beweist nach „Furiosa: A Mad Max Saga“ einmal mehr ihre Qualitäten als Actionheldin. Befremdlich ist nur, dass sie ihren deutlichen russischen Akzent, mit dem ihre Figur am Anfang mit ihrem Vater spricht, im weiteren Verlauf des Films (zumindest in der englischen Originalsprachfassung) einfach so komplett ablegt.

Fazit: Die erste Filmhälfte des Apple-TV+-Blockbusters „The Gorge“ wirkt noch etwas betulich, aber dafür beeindruckt das Effekt-Brimborium danach umso mehr! Ein erstaunlich souveräner Mix aus subtiler Liebesgeschichte und actionreichem Sci-Fi-Horror mit einer stimmigen Auflösung für die im Nebel verborgene Gefahr aus der Schlucht.

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