Vom Softsex-Klassiker zum modernen Meisterstück
Von Kamil Moll„Alles ist erlaubt“, sagt ein Diplomat in Just Jaeckins Softsex-Klassiker „Emmanuelle“ von 1974 über die Aussichten, bei einem Interkontinentalflug von Frankreich nach Thailand Sex über den Wolken haben zu können. „Aber nichts möglich“, erwidert sein Geschäftspartner, der es anzweifelt, dass sich dazu willige Fluggäste an Bord finden ließen. Die von Sylvia Kristel gespielte Emmanuelle macht das Unmögliche möglich: In der ikonischsten Szene des Films, bis heute so oft zitiert wie parodiert, schläft sie mit zwei Männern: mit einem auf einer Sitzreihe inmitten der Blicke neugieriger Passagier*innen in der ersten Klasse, mit dem anderen in der diskreteren Abgeschiedenheit der Bordtoilette. Mit dieser Episode eröffnet nun auch Audrey Diwan ihr „Emmanuelle“-Reboot, 2024 quasi zum 50-jährigen Jubiläum des Kultfilms entstanden. Die „Das Ereignis“-Regisseurin akzentuiert und erzählt sie aber ganz anders:
Während Emmanuelle im Original einer Freundin von diesem Erlebnis kurz erzählt und der Film daraufhin das Geschilderte so detailgenau wie samtig überästhetisierend illustriert, sehen wir in der Neuauflage, wie Emmanuelle, gespielt von der fantastischen Noémie Merlant („Porträt einer jungen Frau in Flammen“), einen Mann in die Toilette des Flugzeugs lockt, bevor die Kamera sich langsam auf ihre eher konzentriert denn lustvoll wirkenden Gesichtszüge zubewegt und schließlich abblendet.
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Nicht viel scheint zunächst von dieser Bekanntschaft zurückgeblieben zu sein, nur ein düster schimmerndes Blutgerinnsel an Emmanuelles Becken, die Stelle, an der der Mann sie beim Sex gegen das Waschbecken stieß. Und doch kehrt der Film später wieder dahin zurück: In einer Hotelhalle erzählt Emmanuelle einem geheimnisvollen Fremden, Kei (Will Sharpe), alles ausführlich aufs Neue, laut mit den Fingernägeln auf eine Tischplatte tippend – das ist der Rhythmus, in dem er in mich drang, sagt sie nun deutlich erregter. Erst in der Nacherzählung beherrscht sie diesen Moment rückwirkend.
Daran, wie beide Filme das Gleiche auf vollkommen unterschiedliche Weise zeigen und erzählen, lässt sich am deutlichsten erkennen, wie radikal anders und doch in direktem Dialog sich Diwan in ihrem meisterlichen Remake zum originalen Film verhält: Maß dieser einstmals in der Form einer hochglänzenden Mainstream-Produktion die mehr empfundenen als real existierenden Freiräume der 1970er-Jahren aus, ist „Emmanuelle“ im Jahre 2024 einerseits geprägt von einer dunkleren und geradezu desillusionierten Melancholie angesichts schwindender Möglichkeitsräume, findet zum anderen aber auch andere Wege, wie Begehren und Gelüste befriedigt werden können.
Anders als in der Vorlage ist Emmanuelle keine erwerbslose Gattin eines Diplomaten mehr, die im internationalen Sex-Jetset ihre Bedürfnisse zu artikulieren lernt, sondern für die Qualitätssicherung in Hotels weltweit zuständig. Sie evaluiert die Zufriedenheit von Kund*innen, übt also einen der maßgeblichen Dienstleistungsjobs im 21. Jahrhunderts aus. In keiner Sekunde lässt Diwan dabei einen Zweifel daran, dass der Hongkonger Hotel-Mikrokosmos, in dem der Film nahezu ausschließlich spielt, ein verdichtetes Symbol für den Spätkapitalismus unserer Gegenwart ist. Es ist zugleich aber auch eines, dessen schillernde, reflektierende Oberflächen eine eigene Art der verführerischen Erotik ausstrahlen. Nur allzu bereitwillig folgt die Kamera in endlos scheinenden Fahrten Noémie Merlant durch die verwinkelten Gänge des Hotels, badet in intensiven Blau- und Gelbtönen des durch die verglasten Fensterfronten des Gebäudes in die Räume eindringenden Lichts.
Die Kontrolle über den Kreislauf dieses Unternehmens zu haben, verstehen zu lernen, was den Gästen Befriedigung verschafft, ist in „Emmanuelle“ eine neue, schöne Form des sexuellen Genusses. Nur einmal verlässt der Film diese mondäne Welt: Einer versteckt kodierten Einladung folgend begibt sich Emmanuelle in die Chungking Mansions, einen geheimnisvoll verworrenen Gebäudekomplex voller Geschäfte und zwielichtiger Bars, der heutzutage der Inbegriff eines im Verschwinden begriffenen, aufregend-schmutzigeren Hongkongs ist und dem Wong Kar-Wai einstmals mit „Chungking Express“ ein Denkmal setzte. Mit dieser cinephil aufgeladenen Hommage an einen Ort der Vergangenheit verweist Diwan dabei zugleich auf etwas anderes: Auch die darin enthaltenen Versprechen und Verlockungen befinden sich für die Zuschauenden von heute bereits außerhalb ihrer Welt und verabschieden sich unbemerkt.
Auf dem Filmfestival von San Sebastián fiel „Emmanuelle“ als Wettbewerbsbeitrag nahezu einhellig durch und stieß auch beim Kinostart im französischsprachigen Raum auf schulterzuckende Indifferenz. Zu wenig erfüllt dieses eigensinnige Meisterwerk die Erwartungen eines erhofften Revivals von fürs Kino produzierten Erotikstoffen und verweigert sich auch sonst gängigen Schablonen und Erfordernissen der heutigen Zeit (die neue Emmanuelle mag vieles sein, aber ganz sicher kein Girlboss). Die vermeintliche Sperrigkeit, seine Mischung aus intellektueller Kühle und komplizierter Sexiness, verweist aber zugleich auch auf andere missverstandene und bislang ungenügend geliebte Filme: jene von Isabelle Stever („Grand Jeté“) etwa, oder auch das Spätwerk von David Cronenberg („Crimes Of The Future“). Wie diese Filme kriegt „Emmanuelle“ möglicherweise die Gegenwart dermaßen scharfsichtig zu fassen, dass sich erst künftige Generationen diesem Blick stellen werden.
Fazit: „Emmanuelle“ von Audrey Diwan ist eine radikale Neuinterpretation des Softsexklassikers aus den 1970er-Jahren. Inmitten der verlockend schillernden Oberflächen eines Hotelkomplexes in Hongkongs erzählt das unterschätzte Meisterwerk davon, wie sich komplexe Begierden im Spätkapitalismus womöglich doch noch befriedigen lassen können.
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