In die Sonne schauen
Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
4,5
hervorragend
In die Sonne schauen

So oder so ein Jahrhundertfilm

Von Christoph Petersen

Selten wurde ein deutscher Film schon vor seiner Weltpremiere im Wettbewerb von Cannes so sehr gehypt wie „In die Sonne schauen“. Vielleicht lag es auch daran, dass der Applaus nach der ersten Vorstellung noch etwas verhalten ausfiel. Der zweite Langfilm der Berlinerin Mascha Schilinski („Die Tochter“) ist nun mal kein zweiter „Toni Erdmann“, in den sich vor neun Jahren erst ganz Cannes und anschließend die ganze Welt schockverliebt hat – und trotzdem waren die Vorab-Lorbeeren absolut gerechtfertigt: So einen Film muss man eben erst einmal verarbeiten, um zu erkennen, was man da gerade herausragendes gesehen hat.

„In die Sonne schauen“ ist eine meisterhafte und mitreißende Meditation über den (weiblichen) Schmerz, der sich im Laufe von 100 Jahren in einem Vierseitenhof in der Altmark ansammelt. Ein so grandios wie radikal inszenierter (Geister-)Film, der gleichermaßen verstört wie fasziniert, berührt wie niederschmettert – und zwischendrin sogar immer wieder mit makabrem Humor überrascht. Schon seit längerem schafft es kaum noch mal ein deutscher Film in den Cannes-Wettbewerb – und trotzdem ist es keine Überraschung, dass sich Cannes und die Berlinale wohl regelrecht darum geprügelt haben, diesen so besonderen Film zeigen zu dürfen.

Wen schaut die kleine Alma (Hanna Heckt) da eigentlich gerade an? Immer wieder wird die Vierte Wand allein mit Blicken durchbrochen… Neue Visionen
Wen schaut die kleine Alma (Hanna Heckt) da eigentlich gerade an? Immer wieder wird die Vierte Wand allein mit Blicken durchbrochen…

Es sind drei Generationen und dann eine moderne Berliner Familie, die sich den heruntergekommenen Hof in Eigenarbeit wieder schick machen will, die wir hier über mehr als ein Millennium hinweg beobachten. Die sich assoziativ entspinnende Handlung läuft dabei nicht chronologisch ab, sondern springt zwischen den Jahrzehnten hin und her. Mal schauen wir im ohnehin schon einengenden 4:3-Bildformat noch zusätzlich durch Türspalte oder Schlüssellöcher – und ganz oft folgt eine Handkamera den Hinterköpfen der Protagonist*innen, als wären tragbare Camcorder für Familienaufnahmen nicht erst in den 1980ern, sondern schon ein halbes Jahrhundert früher in Mode gekommen.

Ein wenig erinnert das – auch in seiner sinnlichen Taktilität – an den großartigen „A Ghost Story“, in dem Casey Affleck als Geist mit Bettlaken in der Ecke eines Zimmers steht und über die Jahrhunderte dabei zusieht, wer da alles kommt und geht. Oder auch an die gerade mit „Der Spatz im Kamin“ beendete Tier-Trilogie der Zürcher-Brüder, die auch auf engstem Raum den Kessel so sehr anheizen, dass ihre Familienanordnungen (meist mit einem dunkelschwarzhumorigen Knall) auseinanderfliegen. Im selben Moment ist „In die Sonne schauen“ aber auch vollkommen originär und originell. An die ganz eigene Filmsprache von Mascha Schilinski muss man sich erst mal gewöhnen – wobei es vielleicht sogar gerade dann am spannendsten ist, wenn man als Zuschauender selbst noch auf wackligen Beinen steht.

Aus der Komfortzone drängen

Sowieso schubst uns Mascha Schilinski zu Beginn erst mal auf vielfältige Weise aus der Bahn: Angefangen bei dem plattdeutschen Dialekt, der in den am weitesten zurückliegenden Szenen gesprochen wird und bei dem auch die meisten deutschen Kinobesucher*innen auf Untertitel angewiesen sein werden. Und dann startet „In die Sonne schauen“ auch noch mit allerlei Absonderlichkeiten, deren Hintergründe erst im Verlauf des Films enthüllt werden – angefangen mit einem Michel-aus-Lönneberga-Streich, bei dem die kleine Alma (Hanna Heckt) und ihre Schwestern die Pantoffeln der Magd auf einer Türleiste festnageln, woraufhin sie sich beim Hineinschlüpfen in bester Charlie-Chaplin-Manier geradeheraus auf die Nase legt.

Es geht weiter mit schemenhaften Erscheinungen auf historischen Fotografien und der in der DDR aufwachsenden Angelika (Lena Urzendowsky), die sich mit ihrem Cousin ein Wettrennen über ein frisch gemähtes Kornfeld liefert, nur um hinterher zu zählen, wer am meisten Stichwunden an den Füßen davongetragen hat. Die Bauerntochter Erika (Lea Drinda) ist in den 1940er Jahren wiederum so fasziniert vom amputierten Unterschenkel ihres Onkels, das sie nicht nur zahllose Zeichnungen davon anfertigt, sondern sich nachts auch in sein Zimmer schleicht, um dort vom in seinem Bauchnabel zusammenlaufenden Schweiß zu kosten.

Angelika (Lena Urzendowsky) will sich und ihre Sexualität ausprobieren, muss sich aber zugleich der Übergriffe ihres Onkels erwehren. Neue Visionen
Angelika (Lena Urzendowsky) will sich und ihre Sexualität ausprobieren, muss sich aber zugleich der Übergriffe ihres Onkels erwehren.

„In die Sonne schauen“ fühlt sich im besten Sinne immer auch ein bisschen gefährlich an, weil man sich nie darauf verlassen kann, was als nächstes passiert. In einer Szene hat sich sogar der gesamte Kinosaal gemeinsam die Hände vor die Augen gehalten, wenn sich eine der Protagonistinnen in einem Kornfeld an ein schlafendes Rehkitz schmiegt, um sich in dieser Position von einem Mähdrescher überfahren zu lassen, der sich erst auf der Soundspur nähert – und dann auch bildlich regelrecht auftürmt. Oder war auch das womöglich wieder nur eine (Selbstmord-)Fantasie? Im Gegensatz zu „A Ghost Story“, wo das Kommen und Gehen über die Jahrhunderte auch etwas Tröstliches hat, weil es immer irgendwie weitergeht, ist das mit der Hoffnung in „In die Sonne schauen“ so eine Sache.

Die Protagonistinnen (bzw. ihre Geister) scheinen ja auch deshalb zunehmend in die anderen Geschichten hinüberzuwirken, weil sie zum Teil auch Jahrzehnte später noch immer ganz ähnliche Schmerzen und Traumata erleiden. Frauen und Mädchen verschwinden, sterben, mehrere von ihnen begehen Selbstmord – und oft wird danach kein Wort mehr über sie verloren. Filme, die einen ohne klassisches Happy End mit einer solch niederschmetternden Moral aus dem dunklen Kinosaal entlassen, die sollten einem dafür dann aber bitte auch genug anderes Bleibendes mitgeben – und in dieser Hinsicht liefert „In die Sonne schauen“ voll ab, aber mal sowas von.

Fazit: „In die Sonne schauen“ ist ja schon ganz plump deshalb ein Jahrhundertfilm, weil seine ineinander zerfließende Handlung 100 Jahre umspannt. Aber nach Meinung des Autors dieses Textes (und angesichts der ersten, durchweg überschwänglichen Kritiken in den neben FILMSTARTS noch wichtigsten Filmmagazinen der Welt) stehen die Chancen ziemlich gut, dass Mascha Schilinski tatsächlich der Sprung vom roten Teppich in Cannes zu einem bleibenden Platz in der Filmgeschichte gelingen könnte. Aber das werden dann die nächsten 100 Jahre zeigen.

Wir haben „In die Sonne schauen“ beim Cannes Filmfestival 2025 gesehen, wo er im offiziellen Wettbewerb seine Weltpremiere gefeiert hat.

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