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    Der einzige Zeuge
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Der einzige Zeuge
    Von Asokan Nirmalarajah

    Mitte der 80er Jahre befand sich Harrison Ford auf dem Zenit seiner Karriere als Hollywood-Star. Der bodenständig auftretende Schauspieler mit dem süffisanten Lächeln hatte gerade die Dreharbeiten zum dritten Teil der „Krieg der Sterne"-Reihe („Die Rückkehr der Jedi-Ritter") und zum zweiten Teil der „Indiana Jones"-Tetralogie („Indiana Jones und der Tempel des Todes") hinter sich gebracht und war es leid geworden, den coolen Sprücheklopfer in actionlastigen Abenteuerfilmen zu geben. Der Mime wollte sein Repertoire erweitern und da kam ihm das lange von den Studios abgelehnte Drehbuch zu einem unorthodoxen Thriller, der als routinierter Großstadt-Krimi beginnt, sich in eine sensible Milieustudie samt zaghafter Liebesgeschichte verwandelt, um schließlich mit einem klassischen Western-Showdown zu enden, gerade recht. Der fertige Film, der unter dem Titel „Der einzige Zeuge" in die Kinos kam, erwies sich nicht nur als ein Überraschungserfolg bei Kritik und Publikum, sondern brachte Ford auch seine erste und bislang einzige Oscar-Nominierung ein. Heute beeindruckt das in der streng religiösen Amish-Gemeinschaft angesiedelte romantische Kriminaldrama vor allem auch durch die feinfühlige Inszenierung des Australiers Peter Weir in seinem US-Debüt.

    Die junge Witwe Rachel Lapp (Kelly McGillis) reist mit ihrem achtjährigen Sohn Samuel (Lukas Haas) von Lancaster County nach Philadelphia, um ihre Schwester zu besuchen. An einer Bahnhaltestelle in der Stadt sucht Samuel die Herrentoilette auf, wo er unbemerkt Zeuge eines brutalen Mordes wird. Captain John Book (Harrison Ford) und Sergeant Eldon Carter (Brent Jennings) von der Mordkommission übernehmen den Fall und versuchen, dem scheuen Jungen Informationen über die Mörder zu entlocken. Als Samuel überraschend einen hochdekorierten Polizisten, James McFee (Danny Glover), identifiziert und Book kurz darauf von eben diesem angeschossen wird, flüchtet der schwer verwundete Captain mit Rachel und Samuel in deren abgelegene Amish-Gemeinde. In der ländlichen Umgebung wird der Großstädter Book zunächst widerwillig aufgenommen und gesundgepflegt. Doch während seines Aufenthalts verliebt sich John in Rachel - sehr zum Missfallen des heiratswilligen Amish Daniel Hochleitner (Alexander Godunov). Unterdessen soll Books Partner Carter die Korruption in den eigenen Reihen untersuchen...

    Die Autoren William Kelley und Earl W. Wallace verfassten die erste Drehbuchfassung zu dem, was schließlich „Der einzige Zeuge", werden sollte, ursprünglich für eine Folge der Westernserie „Rauchende Colts", der Entwurf war bereits seit den 1970ern in Hollywood im Umlauf. Die Abneigung kommerziell orientierter Studio-Manager gegen ländliche Geschichten und gegen die detaillierte Schilderung des hochritualisierten Lebens der Amish auf Kosten der Krimihandlung stand der Realisierung des Stoffes lange im Weg. Erst der Produzent Edward S. Feldman, dem das Buch 1983 in die Hände fiel, zeigte sich ernsthaft interessiert. Er brachte die Original-Schreiber mit der Liebesromanautorin Pamela Wallace zusammen, die schließlich für eine bessere Verflechtung von Krimi und Milieustudie sorgte sowie die weibliche Hauptfigur sorgfältiger ausarbeitete - von dieser Fassung war nicht nur Harrison Ford begeistert. Bei der Oscar-Verleihung 1986 erhielt „Der einzige Zeuge" bei acht Nominierungen dann zwei hochverdiente Preise: für den mal meditativ-ruhigen, mal packend-dynamischen Schnitt von Thom Noble und eben für das Drehbuch, das heute noch in Hollywood-Filmschulen als Referenzwerk verwendet wird.

    „Der einzige Zeuge" zeichnet sich nicht nur durch eine vorbildlich klare Erzählstruktur und durch die perfekte Balance scheinbar widersprüchlicher Genre-Elemente (Romanze, Krimi, Gesellschaftsporträt) aus, sondern beeindruckt auch als leise Reflexion über die Gewaltspirale im urbanen Amerika sowie über den Gegensatz zwischen städtischen und ländlichen Lebensweisen. Regisseur Peter Weir („Der Club der toten Dichter", „Die Truman Show") empfahl sich mit seinem präzisen Auge für die kulturellen Konflikte seines Heimatlandes Australien in Filmen wie „Die letzte Flut" und „Gallipoli" für „Der einzige Zeuge". Er arbeitet die Kontraste und Widersprüche auch in den USA klar heraus, ohne dabei in einen plumpen Schematismus zu verfallen. So sind die von Harrison Ford und Kelly McGillis („Top Gun") sehr einfühlsam gespielten Protagonisten beide Grenzgänger zwischen ihren unvereinbaren Kulturen. Weir unterstreicht durch seine Inszenierung die Gefahr, die mit jeder Überschreitung dieser unsichtbaren Grenzen einhergeht – vom harmlosen Gang auf eine öffentliche Toilette durch den talentierten Jungdarsteller Lukas Haas („Brick") als Samuel bis hin zum packenden Showdown, wenn die Mörder schwer bewaffnet am Horizont der friedlichen Amish-Gemeinde auftauchen.

    Peter Weir ist zu sehr ein romantischer Melancholiker, um sich der Konvention eines lupenreinen Happy-Ends beugen zu können. Die finale Wendung von „Der einzige Zeuge" ist vielleicht nicht so radikal und überraschend wie die aus Weirs früheren Filmexperimenten (etwa in „Picknick am Valentinstag"), doch das gedämpfte Ende passt zu einem Film, in dem die Liebesgeschichte fast vollständig über den Austausch scheuer Blicke und im Rahmen einer punktgenauen Milieustudie erzählt wird. Damit ist „Der einzige Zeuge" bis heute eine Ausnahmeerscheinung im Hollywood-Kino, der Harrison Ford und Peter Weir im Folgejahr mit dem Aussteigerdrama „Mosquito Coast" ein noch mutigeres, sträflich unterschätztes Glanzstück folgen ließen.

    Fazit: Peter Weir vereint Krimihandlung, Milieustudie und Liebesgeschichte zu einem außergewöhnlichen Thriller und Harrison Ford zeigt, was er schauspielerisch drauf hat.

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