Das gab es in 79 Jahren Cannes Filmfestival noch nie!
Von Christoph Petersen„Das fünfte Element“ von Luc Besson, „Moulin Rouge!“ von Baz Luhrmann, „Robin Hood“ von Ridley Scott, „Midnight In Paris“ von Woody Allen und sogar das Pixar-Meisterwerk „Oben“ als erster Animationsfilm haben bereits das Cannes Filmfestival eröffnet. In der Regel sind es Blockbuster mit großen Stars oder neue Werke bereits verdienter Regisseur*innen, denen die Ehre zuteilwird, den Auftakt für das wichtigste Filmfestival der Welt zu bilden. Aber im 78. Anlauf ist alles anders. Zum ersten Mal in der Geschichte von Cannes gibt es 2025 ein Langfilmdebüt als Eröffnungsfilm – und international bekannte Namen sind vor der Kamera auch nicht zu entdecken. Eine solch präzedenzlose Entscheidung schürt natürlich Erwartungen:
Haben die Festivalplaner*innen da womöglich einen ungeahnten Schatz gehoben, über den wir alle noch in vielen Jahren sprechen werden? Aber dann würde „Nur für einen Tag“ doch im offiziellen Wettbewerb laufen und nicht außer Konkurrenz gezeigt werden. Stattdessen ist das bittersüße Langfilmdebüt von Amélie Bonnin vor allem verdammt sympathisch – und dazu noch durch und durch Französisch: Die Protagonistin ist auf dem besten Weg zur Sterneköchin, muss ihre Haute Cuisine auf absehbare Zeit aber erst mal in ihrem Heimatort an der Autobahn kochen, wo sie mit ihren Eltern und Jugendfreund*innen ständig melancholische Chansons anstimmt. Das macht Lust aufs Essen, aufs Singen, aufs Leben und aufs Kino – und mehr kann man von einem Eröffnungsfilm wohl kaum verlangen.
Cécile (der französische Popstar Juliette Armanet) hat die TV-Koch-Show „Top Chef“ gewonnen und wird in zwei Wochen gemeinsam mit ihrem Freund Sofiane (Tewfik Jallab) ein Spitzenrestaurant in Paris eröffnen. Allerdings fehlt ihr noch das eine besondere Gericht, das alle von den Sitzen haut und das jeder sofort auf Instagram teilt. Cécile ist deshalb so sehr im Stress, dass sie selbst gar nicht auf die Idee kommt, zu ihren Eltern zu fahren, als sie den Anruf erhält, dass ihr Vater wegen einer Herzsache ins Krankenhaus eingeliefert worden sei. Sofiane muss sie regelrecht zwingen, nach Hause zu fahren, auch um ihre Mutter Fanfan (Dominique Blanc) zu unterstützen, die jetzt mit der familieneigenen Trucker-Klause allein dasteht.
Aber als Cécile ankommt, hat sich ihr Vater Gérard (François Rollin) schon wieder selbst entlassen. Trotzdem hilft sie erst mal in der Küche mit, wo natürlich viel simplere Dinge gekocht werden, als sie es gewohnt ist. Am Abend trifft sie sich mit einigen Freunden aus ihrer Jugend, darunter auch dem Mechaniker Raphaël (Bastien Bouillon), in den sie damals offensichtlich ziemlich verschossen war. So kommen schon bald die Gefühle aus einer längst verdrängten Jugend wieder hoch (und zwar meist in der Form von textlich angepassten Chansons), während Cécile zugleich auch noch damit klarkommen muss, dass sie offenbar schwanger ist, obwohl Sofiane und sie doch niemals Kinder haben wollten…
Vor vier Jahren hat Amélie Bonnin einen 25-minütigen, mit dem César Award ausgezeichneten Kurzfilm gedreht, der ebenfalls „Nur für einen Tag“ heißt und in dem in Anlehnung an die berühmten 60er-Jahre-Musicals von Jacques Demy auch gesungen wird. Sogar die Hauptrollen sind mit denselben Schauspieler*innen besetzt. Und trotzdem ist ihr Langfilmdebüt nicht einfach eine Erweiterung ihres preisgekrönten Kurzfilms, der auch schon als „‚La La Land‘ in der französischen Vorstadt“ bezeichnet wurde, sondern wenn überhaupt ein Genderswap-Remake: Schließlich war es 2021 noch François Rollin als Julius, der in seinen Heimatort zurückkehrt und dort auf seine von Juliette Armanet gespielte Jugendfreundin Caroline trifft. (Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Kritik ist der Kurzfilm noch in der Mediathek von ARTE abrufbar.) Ob der Geschlechtertausch jetzt (abgesehen von der Schwangerschaft) thematisch viel ändert, sei mal dahingestellt …
… aber allein, dass jetzt die grandiose Juliette Armanet („Micmacs“) ganz im Zentrum steht, ist ja schon Grund genug zur Freude. Dabei muss sich trotz der obigen Inhaltsangabe übrigens niemand Sorgen machen, dass „Nur für einen Tag“ die Kinoversion eines typischen Hallmark-Weihnachtsfilms sei, in denen ja regelmäßig erfolgreiche Karrierefrauen aus der großen Stadt erkennen, dass sie völlig auf dem Holzweg waren und es doch viel besser wäre, einfach in irgendeinem Kaff ein heimeliges Bed & Breakfast zu eröffnen. „Nur für einen Tag“ täuscht das zwar kurz an, ist dann aber doch viel schlauer (und ehrlicher). So erinnert der Film mit seiner überschäumenden Jugendliebe-Nostalgie, die zwar übermannt, aber kein ganzes gelebtes Erwachsenendasein beiseite wischen kann, phasenweise sogar an den meisterhaften Indie-Hit „Past Lives“ von Celine Song.
Allerdings treffen einen die emotionalen Einschläge hier längst nicht so wie in „Past Lives“. Statt Heulen ist hier eher Schmunzeln angesagt. So hat sich Céciles Vater etwa feinsäuberlich in seinem Heftchen in der Brusttasche notiert, was seine Tochter in welcher Episode von „Top Chef“ alles über ihre Heimat und ihre Kindheit in der Trucker-Küche gesagt hat – und das waren meist keine netten Dinge: „Als ich in meinem Dorf erzählt habe, ich würde von einem Michelin träumen, haben alle gedacht, ich würde damit Autoreifen meinen.“ Ein amüsanter Zufall, dass ihr Raphaël kurz darauf seine Mechaniker-Visitenkarte überreicht, natürlich mit einem Reifen-schiebenden Männchen darauf.
Und dann wird ja auch noch gesungen, manchmal mit, meist ohne größere Choreografien. Es sind Stücke, von denen viele wohl eher nur in Frankreich (etwa Claude François und Michel Delpech), einige aber auch in der ganzen Welt (Céline Dion) bekannt sind. Angestimmt werden sie hier in einer extra für den Film überarbeiteten Form – gerade von Armanets Co-Stars nicht unbedingt stimmsicher, aber dafür immer voller Gefühl. Das können so wohl tatsächlich nur die Französ*innen…
Fazit: Die wunderbare Juliette Armanet überstrahlt alles – und dann wird auch noch Chanson-Karaoke angestimmt! Manchmal braucht es eben gar nicht viel mehr für einen mit schmerzhaft-zärtlicher Melancholie abgeschmeckten Gute-Laune-Film…
Wir haben „Nur für einen Tag“ beim Cannes Film Festival 2025 gesehen, wo er außer Konkurrenz als Eröffnungsfilm gezeigt wurde.