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    Die Höhle der vergessenen Träume
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Die Höhle der vergessenen Träume
    Von Carsten Baumgardt

    Die 1994 im südfranzösischen Ardèche-Tal entdeckten Chauvet-Höhlen sind eine wissenschaftliche Sensation. Rund 400 Wandbilder, bis zu 32.000 Jahre alt, verstecken sich in dem 400 Meter langen Höhlensystem und sind so empfindlich, dass der Zugang stark reglementiert wird. Das französische Kultusministerium hat nur einem einzigen Filmemacher die Erlaubnis erteilt, überhaupt dort zu drehen. Warum dies ausgerechnet Werner Herzog ist, bleibt auf den ersten Blick nebulös. Die Legende besagt, dass Frankreichs Kultusminister Frédéric Mitterrand ein glühender Verehrer von Herzogs Kunst sei und der Regisseur dem Politiker angeboten habe, für den symbolischen Betrag von einem Euro Mitarbeiter der französischen Regierung zu werden. Klar ist: Der Arthaus-Star hatte den besten Riecher und die größte Hartnäckigkeit, den Behörden eine stark limitierte Dreherlaubnis abzuringen. Ob das Votum pro Herzog für die französische Wissenschaft die beste Entscheidung war, darf getrost bezweifelt werden, denn der Auteur nutzt die harten Fakten natürlich nur als Basis, um seine zentralen Motive zu verarbeiten und weniger, um das Thema streng wissenschaftlich abzuarbeiten. Auch die 3D-Dokumentation „Die Höhle der vergessenen Träume" mutiert wieder zu Herzogs universeller Suche nach Spiritualität und dem Ursprung des menschlichen Seins, das sein Oeuvre durchzieht. Für Herzog-Fans ist „Die Höhle der vergessenen Träume" ein Geschenk, das die 61. Berlinale mit allen Filmkunstliebhabern teilte und als Sonderführung des Wettbewerbs anbot.

    Welchen Stellenwert die aufsehenerregenden Funde in den Chauvet-Höhlen in seinen Augen haben, macht Werner Herzog gleich zu Beginn klar. Für ihn sind sie nicht mehr und nicht weniger als „eine der größten Entdeckungen der menschlichen Kulturgeschichte". Ein Felseinsturz hat den Eingang zu den Höhlen vor mehr als 20.000 Jahren versiegelt und das Wunder der Konservierung möglich gemacht. Die Höhlenmalereien und –zeichnungen in der Ardèche-Provinz gelten als die bisher frühesten Funde von vorzeitlicher Kunst und werden seit der Entdeckung unter Verschluss gehalten. Nur eine Handvoll Menschen durfte die Artefakte bisher mit eigenen Augen sehen, weil sie extrem empfindlich sind. Schon die kleinste Veränderung der Luftfeuchtigkeit durch menschlichen Atem kann verheerende Folgen für die prähistorischen Kunstwerke haben und sie zerstören. Neben einem Team aus Wissenschaftlern durfte Herzog unter strengsten Auflagen für kurze Zeit im Frühjahr 2010 in den Chauvet-Höhlen drehen - mit einem Mini-Team von drei Leuten an seiner Seite. Herzogs aktueller Stammkameramann Peter Zeitlinger („Bad Lieutenant", „Rescue Dawn") konnte nur vier batteriebetriebene Leuchten und eine semiprofessionelle Handkamera benutzen, um die atemberaubenden Tier- und Symboldarstellungen auf Film zu bannen.

    Niemand hätte wohl vor „Die Höhle der vergessenen Träume" Werner Herzog mit einem 3D-Film in Verbindung gebracht, aber für diesen ganz speziellen Drehort gab es, wie der gebürtige Münchner betont, keine andere Wahl als dieses Format. Zugleich verkündete er, dass „Die Höhle der vergessenen Träume" sein erster und letzter 3D-Film sein werde. Mit Zeitlinger modifizierte er die auf dem Markt erhältlichen 3D-Kameras so, dass sie in den engen Höhlengängen mit minimaler Lichtsetzung einsetzbar waren. Herzog zelebriert den Effekt des „Jahrmarkt-3D", wo die Objekte auf der Leinwand sich dominant auf den Zuschauer zubewegen und erreicht so eine optimale Plastizität der Bilder. Da ist auch die Nachteil zu verschmerzen, dass durch das wenige Licht gelegentlich Aufnahmen leicht „matschig" wirken und die Menschen durch die 3D-übliche Verzerrung mitunter arg klein wirken.

    Immer wieder schleicht Peter Zeitlingers Kamera zu sakralen Klängen langsam über den Boden der Höhle und brennt den Zuschauern die Objekte direkt vor die Augen – der eindrucksvolle Effekt wird noch dadurch verstärkt, dass die Malereien teilweise sowieso schon als eine Art prähistorisches Daumenkino angelegt waren. In vielen der Zeichnungen haben die vierbeinigen Tiere acht Beine, um einen Effekt der Bewegung für die Betrachter zu provozieren. Ausgestorbene Arten wie der Höhlenlöwe, der Höhlenbär, aber auch Pferde, Bisons oder Mammuts erwachen so förmlich zum Leben. Herzog begnügt sich aber nicht damit, die Entdeckungen aus der Vorgeschichte einfach aufzuzeichnen, er sucht und findet Spiritualität in den betrachteten Werken. Er erforscht damit wie gewohnt auch die Seelen der Menschen und stellt sich vor, wie unsere Urahnen gedacht und was sie gefühlt oder geträumt haben. Die Zeichnungen aus den Chauvet-Höhlen als die ältesten überlieferten Kunstwerke der Geschichte symbolisieren für Herzog die Träume der Menschen der damaligen Zeit, was ihn zu einer universellen Frage führt, die ihn schon lange umtreibt: Was macht den Menschen zum Menschen?

    Herzogs Dokumentationen („Grizzly Man", „Encounters At The End Of The World", „Rad der Zeit", „The White Diamond") sind untypische Vertreter ihres Genres, die sich am ehesten als zwar faktengetriebene, aber äußerst subjektiv inszenierte (Doku)-Dramen bezeichnen lassen. Auch „Die Höhle der vergessenen Träume" durchzieht ein subtiler und ganz individueller Subtext, dem nicht jeder Betrachter zu folgen vermag. Das geht schleichend los, indem sich Herzog wie üblich besonders schräge Figuren herauspickt und seiner Lust am Skurrilen freien Lauf lässt. Genüsslich und voller feinem Humor stellt er uns etwa den Meisterparfümier Maurice Maurin vor, der am Duft eines Berges erkennt, ob sich hinter dem Fels möglicherweise erkundenswerte Höhlen verstecken. Da ist auch noch der Archäologe Gilles Tosello, der früher im Zirkus das Einrad gefahren ist und nun die Höhle in jedem Detail auf dem Computer erfasst. In Verbindung mit Herzogs schon legendär-fatalistischem Off-Kommentar in seinem perfekten, aber stark akzentgefärbtem Englisch ergeben sich so wundervoll humorvolle Momente.

    Gerade als der Abspann naht und man denkt, eine weitere herausragende Herzog-Dokumentation gesehen zu haben, aber vielleicht den ganz speziellen, außergewöhnlichen Gedanken verpasst zu haben, holt der unvergleichliche Filmemacher noch zu einem bizarren Punch aus, der unbedarfte Beobachter zutiefst verstören und die Herzog-Fangemeinde in pure Verzückung versetzen wird. Unweit der Chauvet-Höhlen befindet sich ein Kernkraftwerk, dessen Kühlwasser die Rhône erwärmt und ein tropisches Biosphären-Reservat aufheizt. Die Kamera fährt auf zwei Albino-Alligatoren zu, unweigerlich schießen einem die Leguane aus „Bad Lieutenant" in den Kopf. Im Kommentar stellt Herzog ein kühnes Gleichnis in den Raum: Die Albinos sind Mutationen der Prähistorie, Ähnliches könnte doch auch für die Menschheit gelten... Sind wir vielleicht nicht die veredelte Weiterentwicklung des Homo Sapiens, sondern nur dessen Mutation? Angesichts der Schäden, die wir der Umwelt Tag für Tag zufügen, ist dieser Gedanken zumindest auf metaphorischer Ebene hochinteressant. Schelm, der er ist, schmeißt Herzog diesen gewagten Gedanken mit todernster Miene in den Raum – natürlich mit einem verschmitzten Tonfall in der Stimme...

    Fazit: „Die Höhle der vergessenen Träume" ist ein geradezu archetypisches Werner-Herzog-Werk mit unvergesslichen Bildern – eine echte Erfahrung. Unter dem Deckmantel einer Dokumentation erforscht der Filmemacher allumfassende Themen und entlässt seine Zuschauer mit einem unwiderstehlichen Epilog, der die bis dahin gesehene Kunstgeschichtsstunde noch einmal richtig gegen den Strich bürstet wie es nur ein Werner Herzog kann.

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