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    Una und Ray
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Una und Ray
    Von Christoph Petersen

    Wenn man sich als Zuschauer den ganzen Film hindurch fragt, ob das eigentlich „okay“ ist, was uns der Regisseur und seine Schauspieler da gerade zeigen, dann ist das weder zwingend etwas Negatives noch ist es automatisch etwas Positives. Aber es erzeugt zumindest schon mal eine gewisse Spannung, es kitzelt das moralische Bewusstsein, es regt gleich in dreifacher Hinsicht zum Hinterfragen an: Nicht länger stehen nur die Handlungen der Figuren auf dem Prüfstand, sondern zwangsläufig auch die Absichten der Filmemacher und der eigene ethische Kompass. Benedict Andrews‘ „Una und Ray“, eine Kinoadaption des Theaterstücks „Blackbird“ des schottischen Autors David Harrower aus dem Jahr 2005, ist solch ein Film. Mit seiner konsequenten Ambivalenz fordert er sein Publikum so sehr heraus, dass man sich beim Abspann kaum noch sicher sein kann, ob da nun eigentlich irgendwelche Grenzen überschritten wurden oder nicht. Ein ungemütliches, beklemmendes, aber – emotional wie intellektuell – auch extrem anregendes Filmerlebnis.

    Als Una (Ruby Stokes) mit 13 Jahren als Zeugin aufgerufen wird (ihre Aussage wird wie bei Minderjährigen üblich per Video in den Gerichtssaal übertragen), erzählt sie nicht wie gefordert davon, wie der circa 40-jährige Ray (Ben Mendelsohn) sie missbraucht hat, sie will vielmehr von dem Nachbarn und Freund ihres Vaters wissen: „Wo bist du hingegangen? Warum hast du mich verlassen?“ 15 Jahre später kann Una (als Erwachsene: Rooney Mara) die Geschehnisse von damals für sich noch immer nicht richtig einordnen. War sie nur ein Opfer? Hat sie Ray wirklich geliebt? Warum ist er in jener Nacht nicht zurück ins Hotel gekommen, als sie gemeinsam ins Ausland fliehen wollten? Als sie ein Foto von Ray in der Zeitung entdeckt, stellt ihn Una in der Fabrik zur Rede, in der er inzwischen unter einem anderen Namen als leitender Angestellter arbeitet. Im Pausenraum entspinnt sich ein psychologisches Katz-und-Maus-Spiel, bei dem nicht nur die Zuschauer, sondern wohl auch die Protagonisten selbst nie so richtig wissen, wer da nun gerade wen dominiert und wer eigentlich welche Ziele verfolgt…

    Das gleich vorweg: „Una und Ray“ ist kein Twist-Thriller, bei dem am Ende herauskommt, dass einer der beiden im Hintergrund irgendeinen perfiden (Rache-)Plan durchgezogen hat. Vielmehr geht es Una tatsächlich darum… ja, um was eigentlich? Ray zu zeigen, wie sehr ihr der Missbrauch geschadet hat (sie lässt sich gleich in der ersten Szene auf einer Disco-Toilette von einem Fremden vögeln)? Herauszufinden, ob sie wirklich nur ein Opfer ist? Zu überprüfen, ob sie ihn tatsächlich geliebt hat (und womöglich noch immer liebt)? Es wird nichts entschuldigt, es gibt aber auch keinen Moment, in dem Benedict Andrews im Sinne der politischen Korrektheit Ray unzweideutig als pädophilen Manipulator entlarvt, diese Einschätzung überlässt der australische Theatermacher in seinem Kino-Regiedebüt ganz dem Betrachter. So verwundert es auch nicht, dass sich bei Publikumsgesprächen im Anschluss an Vorführungen des Films immer wieder zeigt, dass Ray von verschiedenen Zuschauern vollkommen unterschiedlich wahrgenommen wird. Im Original heißt der Film übrigens nur „Una“, was unterstreicht, dass es vornehmlich ihre Geschichte ist, während die (ironische) deutsche Abwandlung „Una und Ray“ noch stärker auf die heraufbeschworene Mehrdeutigkeit abzielt, schließlich werden solche Vornamen-Titel sonst vornehmlich bei (Meg-Ryan-)RomComs verwendet (von „Harry und Sally“ bis „Kate und Leopold“).

    Es gibt in „Una und Ray“ einige Elemente, die eindeutig auf die Stückherkunft des Stoffes zurückverweisen: Wenn Una und Ray beispielsweise anfangen, den Müll aus dem Ascheimer im Pausenraum zu verteilen, dann erinnert das an diese typischen Bühnenmomente, in denen versucht wird, ein wenig Abwechslung und Bewegung in ein ansonsten recht statisches Geschehen zu bekommen. Aber darüber hinaus reizt Benedict Andrews die zusätzlichen Möglichkeiten einer Filmversion mit Bedacht aus: Im Gegensatz zum Stück wird hier nicht nur darüber geredet, was vor 15 Jahren passiert ist. Dabei sind die Szenen mit der 13-jährigen Una nicht einfach nur eine schlichte Bebilderung des Erzählten, sondern tragen mit ihren verklärt-sommerlichen Bildern, dem schwer einzuordnenden sphärischen Score und vereinzelten Anspielungen auf Stanley Kubricks „Lolita“ (beim ersten Aufeinandertreffen liegt Una auf einer Liege im Garten) zusätzlich zur Ambivalenz bei. Zuletzt ist „Una und Ray“ auch ganz großes Schauspielerkino. Über die vielschichtige Performance von „Rogue One“-Bösewicht Ben Mendelsohn ist ja wohl schon genug gesagt, während Rooney Mara (oscarnominiert für „Verblendung“ und für „Carol“) eine psychologisch sogar noch komplex-abgründigere Leistung abliefert: Als Zuschauer kann man sich nie sicher sein, ob sie ihr Gegenüber im nächsten Moment küssen oder anspucken wird – und man glaubt ihr auch, dass sie es selbst genauso wenig weiß.

    Fazit: Ein herausfordernd-provokantes, großartig gespieltes Drama (oder vielleicht doch eher eine tragische Liebesgeschichte?), das sein Publikum dankenswerterweise ohne klare Antworten oder einfache Ausflüchte entlässt.

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