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    Atomic Blonde
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Atomic Blonde
    Von Andreas Staben

    Mr. Gorbachev, tear down this wall!“: „Atomic Blonde“ beginnt mit der berühmten Rede, die der damalige US-Präsident Ronald Reagan 1987 am Brandenburger Tor gehalten hat. Es folgen weitere Archiv-Bilder und O-Töne zum Mauerfall, bevor dann plötzlich in Neonschrift der folgende Hinweis eingeblendet wird: „Das ist nicht diese Geschichte.“ Der grelle Schriftzug bringt es auf den Punkt, denn die historischen Ereignisse im November 1989 sind hier nur der Hintergrund für einen stylischen Agenten-Thriller voller Gewalt und Intrigen, der in einer parallelen, künstlich überhöhten Fantasiewelt spielt. Regisseur David Leitch („Deadpool 2“) und Drehbuchautor Kurt Johnstad („300“) verfilmen die Graphic Novel „The Coldest City“ von Antony Johnson und Sam Hart als maximal realitätsentrückte Kalter-Kriegs-Spionage-Charade mit einer saucoolen, aber etwas leblosen Heldin, einem hippen Soundtrack aus 80er-Jahre-Klassikern und einigen entfesselten Actionhöhepunkten – angesiedelt in einem verführerisch leuchtenden, kühl-attraktiven Retro-Berlin, das es so natürlich nie gegeben hat.

    November 1989. In Berlin wird der britische Agent Gascoine (Sam Hargrave) vom sowjetischen Spion Bakhtin (Jóhannes Jóhannesson) getötet. Da der verstorbene Kollege im Besitz einer hochbrisanten Liste mit Informationen über so gut wie alle internationalen Feldagenten und ihre Identitäten war, schicken die MI6-Vorgesetzten Gray (Toby Jones) und C (James Faulkner) ihre Top-Spionin Lorraine Broughton (Charlize Theron) in die noch geteilte deutsche Metropole. Dort soll sie die Liste in Zusammenarbeit mit David Percival (James McAvoy) an sich bringen. Doch gleich nach ihrer Ankunft wird sie von KGB-Handlangern attackiert, denen sie nur mit Mühe entkommt. Nach diversen Intrigen, in die sich unter anderem die französische Jungspionin Delphine Lassalle (Sofia Boutella) und ein dubioser CIA-Mann (John Goodman) einschalten, bleibt Lorraine nur noch ein Weg, die wertvollen Informationen an sich zu bringen: Sie muss den übergelaufenen Stasi-Offizier Spyglass (Eddie Marsan), der die Daten auswendig gelernt hat, sicher über die Grenze von Ost- nach West-Berlin bringen…

    Wenn in einer zentralen Sequenz die Ost-Berliner Bevölkerung demonstrierend durch die Straßen zieht, dann wirkt nicht nur der Schauplatz selbst (gedreht wurde zu großen Teilen in Budapest) irgendwie unecht, auch die schräg formulierten deutschsprachigen Protestplakate sind bloße Dekorationsgegenstände. Die geschichtliche Realität ist hier so etwas wie eine Folie, von der sich das stilisierte Treiben umso besser abheben kann. So werden zwar dutzendweise Trabis und andere 80er-Jahre-Kleinwagen aufgefahren und auch sonst ist der oft computerunterstützte Aufwand bei Ausstattung und Requisite beachtlich, aber letztlich geht es hier anders als etwa in „Bridge Of Spies“ nicht vorrangig um eine glaubhafte Rekonstruktion. Abgesehen von den ziemlich authentischen Bildern der Mauer nutzt man die Berliner Kulissen (wie das Foyer des Kino International) vor allem deshalb, weil sie sich für diesen filmischen Mix aus Kühle und Coolness so perfekt anbieten: In „Atomic Blonde“ gesellt sich der mit eisgekühlten Drinks servierte Chrome-Look einiger Club- und Hotelszenen zum nostalgischen Chic alter U-Bahnen und Telefone, während dem Stasi-Überläufer der DDR-Mief mit Westseife rausgewaschen werden muss. Wir haben es mit einer Popversion eines Agenten-Thrillers zu tun, die passenderweise von allerlei 80er-Jahre-Songs von New Order über Depeche Mode bis zu „99 Luftballons“ begleitet wird.

    Durch Musik, Look und Inszenierung entsteht hier ein ganz eigenes Universum, in seiner Künstlichkeit durchaus vergleichbar mit jener Gangsterschattenwelt, in die sich Keanu Reeves im von David Leitch co-inszenierten „John Wick“ begeben muss. Und ähnlich wie dort werden die ausgedehnten Actionszenen zu den Höhepunkten der Erzählung. In „Atomic Blonde“ gilt dies vor allem für eine atemberaubende Sequenz in einem Mietshaus, die in ein Versteckspiel und eine Verfolgungsjagd auf der Straße mündet und schließlich in der Spree endet. In ihr tritt die Protagonistin mit ihrem Informanten im Schlepptau gegen diverse russische Schergen an. Zunächst entfaltet sich eine schier endlose Prügelei, bei der von der Kochplatte bis zum Korkenzieher alles zum Einsatz kommt, was gerade greifbar ist. Zwischendurch werden auch noch Schuss- und Stichwaffen benutzt, aber auch damit ist es hier alles andere als leicht, seinen Gegner wirklich auszuschalten. Schwer getroffen und gezeichnet wird hier immer weitergekämpft – virtuos und versessen zugleich. Die Choreografie ist ebenso einfalls- wie abwechslungsreich, während die dynamisch-schnörkellose Inszenierung (über Minuten und mehrere Etagen hinweg gibt es keinen einzigen sichtbaren Schnitt) uns die Intensität des schweißtreibenden Tötens nahebringen. Ähnlich zugespitzt geht es auf der Straße weiter und einige spektakuläre Stunts runden die Sequenz zu einem eigenen kleinen Kunstwerk ab. Nichts anderes im Film reicht an diesen Höhepunkt heran, was auch daran liegt, dass der Kalte Krieg bei David Leitch eben nicht nur mit professioneller Brutalität ausgetragen wird, sondern auch mit extremer Emotionslosigkeit.

    Passend dazu gibt es in „Atomic Blonde“ zwar (ein bisschen) Nacktheit mit Charlize Theron im Eisbad und später bei ihrer mäßig leidenschaftlichen lesbischen Sexszene mit „Die Mumie“-Star Sofia Boutella, aber keinerlei Intimität. Genauso wie die Frage, wer hier eigentlich wen hinters Licht führt, lassen einen auch die potenziell tragischen oder melodramatischen Wendungen ziemlich kalt, die ganz wie die Aktionen der Agenten im Film wie kaltschnäuzig kalkulierte Manöver erscheinen. Viele Nebenfiguren aus dem bunt zusammengewürfelten internationalen Cast wie der gleichsam „unkaputtbare“ Ivan-Drago-Verschnitt (Daniel Bernhardt) auf sowjetischer Seite, der findige Nerd-Handlanger Merkel (Bill Skarsgård) oder der von Til Schweiger („Tschiller: Off Duty“) gespielte Uhrmacher, der als eine Art Datenhehler in der Spionagewelt agiert, sind reine Agentenfilmstereotypen. Der ungehemmt drauflos polternde James McAvoy wirkt hier hingegen ein wenig, als wäre er in einer der unangenehmeren der multiplen Persönlichkeiten seines psychisch gestörten Protagonisten aus „Split“ hängengeblieben. Dagegen kann es Charlize Theron in Sachen Coolness locker mit James Bond aufnehmen und im Nahkampf wäre sie wohl selbst gegen Jason Bourne nicht chancenlos – aber an solche herausragenden weibliche Action-Heldinnen wie die von Theron selbst verkörperte Furiosa aus „Mad Max: Fury Road“ oder Gal Gadots Wonder Woman reicht Lorraine trotzdem nicht heran. Dafür fehlen ihr das Herz und die Seele.

    Fazit: „Atomic Blonde“ bietet eine Menge verführerischer Oberflächenreize und eine der besten Actionszenen der jüngeren Vergangenheit, aber die emotionslose Spionagehandlung und die zahlreichen austauschbaren Figuren enttäuschen.

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