Wer sich die Inhaltsangabe des Aussteiger-Dramas „Leave No Trace“ von „Winter’s Bone“-Regisseurin Debra Granik anschaut, dem wird auf den ersten Blick eine frappierende Ähnlichkeit zu „Captain Fantastic“ auffallen, mit dem Matt Ross erst vor zwei Jahren große Teile des Kinopublikums verzückte. Abgesehen von der gleichen Grundkonstellation – „Familie lebt autark und von der Gesellschaft abgeschottet in den Wäldern“ – haben die beiden Filme erzählerisch allerdings wenig gemein. Nutzte Ross das Setting für eine amüsante Fisch-aus-dem-Wasser-Story mit sehr kalkuliert platzierten dramatischen Stolpersteinen, ist Graniks Ansatz wesentlich zurückhaltender: Hier wirkt nichts forciert. „Leave No Trance“ ist ein intelligent konstruiertes, komplex geschriebenes und tief berührendes Vater-Tochter-Drama, das viel über Amerika erzählt.
Der Kriegsveteran und Witwer Will (Ben Foster) lebt mit seiner 13-jährigen Tochter Tom (Thomasin McKenzie) in den Wäldern eines öffentlichen State Parks in Portland, Oregon. Sie ernähren sich von dem, was die Natur bietet und benutzen ein absolutes Minimum an Konsumgütern – sie haben nicht einmal ein Feuerzeug. Die beiden schlafen in einem Zelt und schützen ihre wenigen Habseligkeiten mit einer Plane vor Regen. Manchmal versorgen sie sich in der Stadt mit dem Nötigsten und Will macht seine ihm verschriebenen Schmerzmittel auf dem Schwarzmarkt zu etwas Geld. Als Tom nach einer kleinen Unachtsamkeit im Park entdeckt wird, dauert es nicht lange, bis Polizei und Park Ranger die beiden in Gewahrsam nehmen und ihr Camp auflösen. Sie kooperieren und werden in einem abgelegenen Haus nahe den Wäldern untergebracht, Will bekommt einen Job als Forstarbeiter und Tom soll in die Schule gehen. Doch vor allem Will hält es so nicht lange aus…
Es ist nass, regnerisch und kühl. Ungemütlich eigentlich. Doch diese äußeren Umstände können dem eingespielt-harmonischen Vater-Tochter-Team nichts anhaben. Sie fügen sich perfekt in die Natur ein, ohne viele Spuren zu hinterlassen. Für die schulische Entwicklung seiner Tochter sorgt Will selbst. Es gibt kein Gesetz in den USA, das den beiden verbietet, so zu leben - es sei denn, sie campieren auf öffentlichem Gebiet. Wie sie in diese Situation gelangten, wird nicht erklärt, aber Will hat sich aus Überzeugung für diese Lebensweise entschieden. Regisseurin Debra Granik inszeniert sehr ökonomisch und unaufdringlich, ihr voller Fokus liegt auf den Figuren, über die sie nach und nach Informationen preisgibt. Man spürt den Schwelbrand in Wills Seele, der als Veteran unter dem so typischen posttraumatischen Stress leidet und versucht, ihn durch Flucht aus der Gesellschaft zu bekämpfen. Nebenbei wächst langsam und kaum merklich der zentrale Konflikt zwischen dem liebevollen Vater Will und seiner lebensklugen Tochter. Er will weiter autonom außerhalb der Gesellschaft leben und sich nicht einvernehmen lassen, sie liebäugelt mit dem Wiedereintritt, weil ihr Verlangen nach sozialen Kontakten mehr und mehr zunimmt.
Granik bringt ihre Geschichte in kurzen Alltagsszenen behutsam voran. Zu Beginn hat die selbstgewählte Isolation im Park eine dezente Camp-Romantik, einschließlich einer eindrucksvollen Demonstration der perfekt getarnten Infrastruktur, die von den Außenseitern installiert wurde. Doch auch diese kleine Festung kann das Unausweichliche nicht aufhalten. Auf die naheliegenden dramatischen Zuspitzungen verzichtet Granik dabei, so zeigt Will keine wahnsinnigen Colonel-Kurtz-Attitüden und Tom fängt auch nicht plötzlich an, den rebellischen Teenager raushängen zu lassen. Die Konflikte werden nicht aufgebauscht, wirken dafür aber umso realer, denn die Regisseurin und die Schauspieler bringen uns die Figuren mit großem Feingefühl samt aller ihrer Widersprüche nahe.
Schon mit Werken wie „Winter’s Bone“ und „Stray Dog“ hatte sich Debra Granik als Chronistin des armen weißen Amerikas in der Indie-Filmszene etabliert und so ist auch „Leave No Trace“ nicht nur ein Film über eine Zwei-Personen-Familie, sondern eben auch eine Erzählung über Amerika. Ein Amerika, wie es auch sein kann, ein Amerika mit dem Herz am rechten Fleck. Hier gibt es keine konstruierten Bösewichte, nicht einmal die bürokratischen Behörden kommen dafür in Frage, denn die wollen nur ganz fürsorglich herausfinden, ob Tom Schaden droht. Und die Menschen, die das Protagonistenduo unterwegs in kleinen Orten und abgeschiedenen Trailerparks trifft, sind zumeist hilfsbereit – hier deutet sich die Vision eines Landes an, in der jeder seine eigene kleine Nische finden kann und man sich dennoch gegenseitig unterstützt, wo immer das nötig und möglich ist.
Granik kann sich hier voll auf ihre beiden Hauptdarsteller verlassen und tut das auch. Der sonst oft aufbrausende Typen spielende Ben Foster („High Or Hell Water“) gibt dieses Mal den Verschlossenen und lässt doch immer unterschwellig erahnen, welche Qualen er seelisch durchleidet und welche Verletzlichkeit er doch besitzt. Die Entdeckung ist aber Thomasin McKenzie („Der Hobbit: Die Schlacht der fünf Heere“), deren Leistung Jennifer Lawrences Durchbruchsperformance in „Winter’s Bone“ in nichts nachsteht. Die neuseeländische Newcomerin versprüht eine unglaubliche Natürlichkeit und Toms Bedürfnis, mit anderen Menschen zu kommunizieren, bringt sie auf sympathisch-unwiderstehliche Weise rüber, dass wir es in seiner ganzen lebenswichtigen Bedeutung begreifen.
Fazit: „Leave No Trace“ ist der bessere „Captain Fantastic“. Das naturalistische Wildnis-Drama über die ganz besondere Beziehung zwischen einem traumatisierten Vater und seiner lebensfrohen Tochter überzeugt als still-humanistischer Coming-Of-Age-Film.
Wir haben „Leave No Trace“ bei den Filmfestspielen in Cannes 2018 gesehen, wo er in der Sektion Quinzaine des réalisateurs gezeigt wurde.