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    Lara
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Lara

    Auf Oh Boy folgt Oh Mother

    Von Christoph Petersen

    Wer sein Langfilmdebüt als Regisseur ausgerechnet mit einer schwarz-weißen Berlin-Slacker-Komödie gibt, der muss davon ausgehen, dass man ihm allenfalls in der Independent-Szene der Hauptstadt Beachtung schenkt. Aber Jan Ole Gerster hat diese Aufmerksamkeitsblase mit einem kaum zu überhörenden Knall zum Platzen gebracht: Mit mehr als 350.000 Kinobesuchern mauserte sich sein „Oh Boy“ 2012 zum gesamtdeutschen Indie-Superhit, der dann zum krönenden Abschluss auch noch mit gleich sechs Deutschen Filmpreisen (darunter für den Besten Film, die Beste Regie und den Besten Hauptdarsteller) ausgezeichnet wurde. Trotz dieses Erfolgs im Rücken hat es dennoch stolze sieben Jahre gedauert, bis Gerster mit der Tragikomödie „Lara“ nun seinen zweiten Langfilm vorlegt. Trotz farbiger Bilder und einem diesmal nicht selbst geschriebenen Skript erinnert dabei – zumindest auf den ersten Blick – doch eine ganze Menge an „Oh Boy“.

    Wieder treibt es die Hauptfigur einen Tag lang durch Berlin; wieder sind die einzelnen Szenen von tiefer Melancholie und trockenem Humor durchzogen; wieder spielt Musik eine zentrale Rolle, wenn diesmal auch Klassik statt Jazz. Passend zum Genrewechsel der Musik wirkt „Lara“ trotz seiner destruktiven Protagonistin weniger anarchisch – vielleicht ist Gerster inzwischen auch selbst ein wenig reifer geworden, was ja nach sieben Jahren auch nicht überraschend wäre. Allerdings macht das „Lara“ kein bisschen weniger unterhaltsam, in seiner Milieu- und Charakterzeichnung nicht weniger präzise. Und das Wichtigste: Nach Tom Schilling („Werk ohne Autor“), der diesmal nur in einer größeren Nebenrolle zu sehen ist, hat Gerster erneut einen kongenialen Schauspielpartner für seine Vision gefunden: Corinna Harfouch („Der Untergang“) dominiert die Leinwand praktisch nach Belieben und bleibt selbst dann noch auf verquere Weise Sympathieträgerin, wenn ihre Titelfigur eigentlich unverzeihliche Dinge tut.

    Lara reagiert auf das Konzert ihres Komponisten-Sohnes eher skeptisch.

    An ihrem 60. Geburtstag stellt die pensionierte Stadtbeamtin Lara (Corinna Harfouch) gleich nach dem Aufstehen einen Stuhl vor das Fenster, um aus ihrer kleinen Hochhauswohnung zu springen, in der sie seit der Scheidung von ihrem Bauingenieur-Ex Paul (Rainer Bock) lebt. Aber dann klingelt die Polizei an der Tür, die eine Beamtin als Zeugin für eine Wohnungsdurchsuchung braucht. Zudem soll am selben Abend ihr hochtalentierter, von ihr viele Jahre lang angetriebener Pianisten-Sohn Viktor (Tom Schilling) seine erste eigene Komposition bei einem großen Konzert vorstellen. Allerdings reagiert der schon seit Tagen nicht mehr auf die Anrufe seiner Mutter. Lara hebt all ihr Geld vom Konto ab, kauft ein viel zu teures und enges Abendkleid sowie alle verbliebenen 22 Karten für das Konzert, die sie daraufhin an alte Kollegen, neue Freunde und sogar an zufällige Bekanntschaften auf der Damentoilette zu verteilen beginnt …

    Man könnte Corinna Harfouch wohl noch stundenlang dabei zusehen, wie sie an sich selbst (ver-)zweifelt, im selben Moment aber auch jederzeit andere Personen mit einem einzelnen Satz, einer vermeintlich beiläufigen Bemerkung vollständig zu zerlegen versteht. Das erinnert ein wenig an Jack Nicholsons oscarprämierte Rolle als Melvin Udall in „Besser geht’s nicht“, nur das Harfouch längst nicht so dick auftragen muss, um denselben (selbst-)zerstörerischen Effekt zu erzielen. Das ist mitunter ganz schön fies, aber zugleich eben auch unheimlich vergnüglich, gerade weil es auf eine so gnadenlos-subtile Art geschieht. Wobei Lara auch anders kann, wenn sie etwa in einem unbeobachteten Moment den Geigenstab der ihr gerade noch unbekannten Freundin ihres Sohnes (Mala Emde) zerbricht – wobei der Humor auch in solchen Momenten stets wunderbar trocken serviert wird.

    Eislaufmutter am Piano

    Natürlich enthüllen diese Attacken auf andere vor allem immer auch etwas über Lara selbst. So setzt sich aus den Treffen mit alten Arbeitskollegen, einem früheren Klavierprofessor (Volkmar Kleinert) und der eigenen Mutter (Gudrun Ritter) nach und nach das Puzzle eines gelebten (beziehungsweise vergeudeten) Lebens zusammen. Dieses steuert allerdings lange Zeit auf ein arges Stereotyp zu – nämlich das von der (über-)ambitionierten Mutter, die ihre enttäuschten Lebensträume nun stellvertretend durch den Erfolg des eigenen Kindes zu verwirklichen versucht (quasi eine Eislaufmutter also). Aber obwohl Gerster und sein Autor Blaz Kutin nie ganz von diesem Klischeebild loskommen, bleibt „Lara“ doch bis zum Schluss immer überraschend.

    Vor allem nach dem Konzert, das bei einem dramaturgisch weniger ausgefeilten Film sicherlich den krönenden Abschluss gebildet hätte, aber hier direkt mit blinkender Disco-Mucke in einem typischen Berliner Spätkauf konterkariert wird, begeistert „Lara“ noch mal mit einem überraschenden Tempowechsel. Statt einem großen Finale gibt es ein berührend-intimes Ende, das derart ambivalent ist, dass wir sogar darauf wetten würden, dass etwa die Hälfte des Publikums es als klassisches Happy End und die andere als zutiefst tragisches, fast schon verstörendes Schlussbild auffassen wird. So erreicht die Titelfigur in den letzten Minuten doch noch eine Komplexität, die man ihr zwischendurch eher nicht mehr zugetraut hätte.

    Fazit: „Oh Boy“-Mastermind Jan Ole Gerster ist definitiv kein One-Hit-Wonder – auch seine zweite Regiearbeit erweist sich erneut als herausragendes Schauspielerkino mit jeder Menge wunderbar trockenem Humor.

    Wir haben „Lara“ auf dem Filmfest München gesehen, wo er in der Sektion Neues Deutsches Kino gezeigt wurde.

     

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