Ausgerechnet die zweite Garde rettet das MCU!
Von Julius VietzenNachdem die Marvel-Formel vor allem bis zum Phase-IV-Abschluss mit „Avengers: Endgame“ und „Spider-Man: Far From Home“ fast schon so etwas wie eine Einladung zum Gelddrucken war, hat der Anschein der (finanziellen) Unfehlbarkeit zuletzt die ersten größeren Dellen bekommen: Die seit „Iron Man“ (2008) etablierte und viel zitierte Mischung aus Action und Humor, gewürzt mit eingestreuten Genre-Anleihen und zahlreichen Querverbindungen, allein reichte offenbar nicht mehr aus, um das Publikum in den gewohnten Scharen in die Kinos zu locken. „The Marvels“ war im 33. Anlauf sogar der erste ausgewachsene MCU-Flop – und selbst „Captain America 4: Brave New World“ schleppte sich trotz Harrison Ford als Red Hulk nur mit Ach und Krach über die 400-Millionen-Dollar-Marke. Höchste Zeit also, die etablierte Formel auf den Kopf zu stellen – und da kommt „Thunderbolts*“ genau richtig.
Der 36. Film des Marvel Cinematic Universe wurde schon im Marketing ganz anders und deutlich spielerischer verkauft als seine Vorgänger: So gab es unter anderem einen besonders stylischen Trailer als Verbeugung vor dem gefeierten Indie-Studio A24, in dem zur Abwechslung mal nicht mit den üblichen Blockbuster-Verweisen, sondern mit Vergleichen zu Kultfilmen wie „Midsommar“, „A Different Man“ und „Everything Everywhere All At Once“ geworben wurde. Dazu kamen dann noch der Tom-Cruise-Gedächtnis-Stunt von Florence Pugh sowie ein reales Tinder-Profil des fiktiven Thunderbolts-Mitglieds Red Guardian. Aber nicht nur das Marketing, auch der Film selbst hebt sich über weite Strecken deutlich von anderen MCU-Titeln ab: „Thunderbolts*“ ist trotz seines frech-trockenen Humors im Kern eine erstaunlich ernsthafte und ehrliche Auseinandersetzung mit schwierigen Themen wie Depressionen und Traumata, die nach einigen MCU-Filmen mit mitunter fragwürdigen visuellen Effekten diesmal einige richtig gute, weil überwiegend handgemachte Actionszenen bietet.
Yelena Belova (Florence Pugh) ist depressiv: Ihr Leben ist ein nie endender Kreis aus immer gleich ablaufenden Missionen für die Organisation der Ex-CIA-Chefin Valentina Allegra de Fontaine (Julia Louis-Dreyfus). Ihre Abende verbringt sie deshalb in der Regel allein mit zu viel Alkohol und ihrem Handy. Aber gerade, als sie aussteigen will, wird sie von ihrer skrupellosen Auftraggeberin in eine abgelegene Einrichtung gelockt, wo sie auf John Walker alias US Agent (Wyatt Russell), Ava Starr alias Ghost (Hannah John-Kamen) und Antonia Dreykov alias Taskmaster (Olga Kurylenko) trifft. Sie alle haben für de Fontaine bislang die Drecksarbeit erledigt – und sollen sich nun gegenseitig ausschalten.
Aber womit niemand gerechnet hat: Die Anti-Held*innen raufen sich gerade noch rechtzeitig zusammen! Bei der Flucht aus der Anlage, die einem tödlichen Escape Room gleicht, wachsen Yelena und Co. nämlich nicht nur notgedrungen zu einem Team zusammen, sie lesen auch den rätselhaften Bob (Lewis Pullman) auf, der sich schon bald als Versuchsobjekt in einem (vermeintlich) fehlgeschlagenen Supersoldaten-Programm von de Fontaine herausstellt. Nachdem Bob wieder in ihre Fänge geraten ist, schließen sich Yelena, John und Ava mit Yelenas Ziehvater Alexei Shostakov alias Red Guardian (David Harbour) sowie dem ehemaligen Winter Soldier Bucky Barnes (Sebastian Stan) zusammen, um de Fontaine endgültig in ihre Schranken zu weisen...
„Thunderbolts*“ beginnt mit dem ikonischen Marvel-Logo samt MCU-Fanfare, allerdings kippt der gewohnt triumphale Auftakt optisch und akustisch schon bald ins Düster-Graue ab – bis Regisseur Jake Schreier („Skeleton Crew“) schließlich auf das deprimierte Gesicht von Florence Pugh als Yelena Belova überblendet, die selbst bei der Zerstörung eines geheimen Labors samt Sprung vom zweithöchsten Gebäude der Welt nur halbherzig bei der Sache zu sein scheint. Damit setzt Schreier direkt den trocken-lakonischen Ton für „Thunderbolts*“:
Die titelgebenden Figuren haben nämlich mehr gemeinsam, also nur Antiheld*innen aus der zweiten Reihe sein, die wie beim ähnlich gelagerten DC-Film „Suicide Squad“ bunt zusammengewürfelt werden. Sie alle tragen auch ihr Päckchen mit sich herum, wie immer wieder in Dialogen und Rückblenden thematisiert wird: von Yelenas Kindheit im Black-Widow-Trainingslager über John Walkers verkorkste Captain-America-Amtszeit bis hin zu Red Guardian, der sich sein Geld mittlerweile als Chauffeur verdient und der glorreichen Sowjet-Vergangenheit mit reichlich Alkohol hinterhertrauert.
Dabei können sich vor allem Florence Pugh („We Live In Time“) und Lewis Pullman („Riff Raff“) mit wirklich großartigen Schauspielleistungen hervortun. Pugh verkörpert ihre Yelena mit lebendigem Minenspiel zwischen tief betrübt und vorsichtig optimistisch, während Pullman nicht nur die beiden gegensätzlichen Seiten seiner Figur zeigt, sondern vor allem auch die schillernden Facetten dazwischen gekonnt herausarbeitet, etwa Bobs aus Unsicherheit geborenen Geltungsdrang. Es gibt jedoch auch eine Kehrseite der Medaille: Pugh und Pullman stehen so klar im Mittelpunkt des Films, dass die restlichen Thunderbolts um sie herum zwar jeweils ein, zwei Momente zum Glänzen bekommen, sonst aber klar die zweite Geige spielen.
Hinzu kommt, dass sich bei den Trauma-Wortgefechten der Thunderbolts auf Dauer einige Längen einschleichen – und Red Guardian mit seiner lauten Art sogar hier und da ein wenig nervt. Doch spätestens im sehr MCU-untypischen und überraschend krawallarmen Finale schöpft Jake Schreier dann das emotionale Potenzial seines Figurenensembles komplett aus. Zumal „Thunderbolts*“ daneben auch mit den klassischen MCU-Tugenden, also Action und größtenteils treffsicherem Humor, punkten kann. Wenn etwa vier der Thunderbolts Rücken an Rücken wie eine achtbeinige menschliche Spinne einen Fahrstuhlschacht hochkraxeln und sich dabei kabbeln, wer denn nun die allerschlimmste Kindheit hatte, sorgt das etwa für einige äußerst gelungene Lacher.
Zudem wartet „Thunderbolts*“ vor allem in der ersten Hälfte auch mit einigen hervorragenden Actionszenen auf: Direkt zum Auftakt prügelt sich Yelena etwa durch einen Gang voller Wachen, was Schreier aus der Vogelperspektive in einem schön anzuschauenden Spiel von Licht und Schatten sowie ohne sichtbare Schnitte einfängt. Auch der Kampf von Yelena, US Agent, Ghost und Taskmaster punktet mit einer stets mobilen Kamera, ohne dass jemals die Übersicht verloren geht. Der Action-Höhepunkt ist jedoch eine Verfolgungsjagd durch die Wüste von Nevada, für die sich Schreier wohl mehr als nur ein bisschen vom legendären Truckflip in Christopher Nolans „The Dark Knight“ inspirieren ließ – schließlich gibt es hier direkt hintereinander gleich zwei spektakuläre Fahrzeugüberschläge.
Sowieso ist die Action in „Thunderbolts*“ immer dann am besten, wenn sie wie in den hier beschriebenen Sequenzen handgemacht ist, während in späteren Actionszenen der Einsatz von visuellen Effekten und CGI durchaus negativ auffällt. Umso besser, dass Schreier wie bereits angedeutet in Richtung Finale nicht in typischer Blockbuster-Manier (und wie viele andere MCU-Filme vorher) auf das Prinzip „Höher, schneller, weiter“ setzt, sondern ein thematisch passendes, verhältnismäßig zurückgenommenes Finale inszeniert, das zudem mit einigen spannenden visuellen Einfällen aufwartet und fließend in die große Schlusswendung überleitet.
Fazit: „Thunderbolts*“ ist ein sehr guter und außergewöhnlicher MCU-Film, der mit einigen starken Actionszenen und einem mutigen Finale, vor allem aber einem klaren thematischen Schwerpunkt sowie einem starken Cast überzeugt, aus dem Florence Pugh und Lewis Pullman noch einmal besonders herausragen.