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    Animalia
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Animalia

    Entdecke das Tier in dir

    Von Lutz Granert

    Während der Pubertät werden das Verhältnis zu Eltern, Freund*innen und nicht zuletzt dem eigenen Körper völlig neu bewertet – und das kann für alle Beteiligten ganz schön gruselig sein. Kein Wunder also, dass diese Entwicklungsschübe immer wieder als Metapher gerade in Genrefilmen herhalten müssen: So mutiert die Protagonistin im kanadischen Horror-Thriller „Ginger Snaps – Das Biest in dir“ mit dem Einsetzen der Menstruation zum weiblichen Werwolf mit – im doppelten Sinne – gehöriger Fleischeslust.

    Auch der französische Filmemacher Thomas Cailley („Liebe auf den ersten Schlag“) greift – u.a. inspiriert von den Geschehnissen während der Corona-Pandemie – auf die Tier-Metapher zurück, um die disruptiven Veränderungen in einem Teenagerleben zu beschreiben, agiert dabei aber deutlich subtiler. „Animalia“ lässt sich so nur angenehm schwerlich in eine Schublade pressen: Zwischen berührendem Familiendrama, poetischer Coming-Of-Age-Geschichte und verstörendem Body-Horror geht der in Cannes und auf dem Fantasy Filmfests gefeierte Arthouse-Fantasyfilm seinen ganz eigenen Weg.

    Émile (Paul Kircher) und François (Romain Duris) müssen einen gemeinsamen Weg finden, um mit den Mutationen erst der Mutter und dann des Sohnes irgendwie klarzukommen…

    Eine rätselhafte Epidemie breitet sich in Frankreich aus: Aus bislang ungeklärter Ursache mutieren immer mehr Menschen zu Tieren. Die Mensch-Tier-Hybride, denen plötzlich Flügel, Klauen oder ein Fell wachsen, weisen oft ein aggressives Verhalten auf, weshalb sie von den Behörden als gefährlich eingestuft werden. Auch die Mutter des 16-jährigen Émile (Paul Kircher) ist betroffen - und hat ihrem eigenen Sohn bei einem Angriff eine Narbe im Gesicht verpasst. Als sie in eine umzäunte Auffangstation gebracht wird, ziehen Émile und sein als Koch arbeitender Vater François (Romain Duris) in ihre Nähe im Südwesten Frankreichs.

    Émile findet in der neuen Schule unerwartet schnell Freunde – und verguckt sich in seine an ADHS erkrankte Mitschülerin Nina (Billie Blain). Langsam baut sich zwischen ihnen eine romantische Beziehung auf, bis Émile im Sportunterricht beim Tauziehen ungeahnte Kräfte entwickelt. Auch bei ihm hat eine Mutation eingesetzt, die seinen Körper unaufhaltsam verändert – was François wegen drohender Konsequenzen durch die rigiden Behörden allerdings so lange wie möglich geheim halten will...

    Auf den Spuren von H.G. Wells & David Cronenberg

    In seiner Videobotschaft für das Fantasy-Filmfest-Publikum machte Thomas Cailly aus seinen zahlreichen filmischen Vorbildern keinen Hehl: Bei seiner in einer sich plötzlich und dann rasend schnell veränderten Welt spielenden Geschichte habe er sich vor allem an H.G. Wells Fantasy-Klassiker „Die Insel des Dr. Moreau“ orientiert. Doch auch filmische Einflüssen sind (natürlich) nicht von der Hand zu weisen: Wenn sich Émile auf eine (auch fürs Publikum) äußerst schmerzhafte Art die unter den kaputten Fingernägeln wachsenden Krallen herauszieht oder unter der Gesichtsmaske des zum Adler mutierenden Fix (Tom Mercier) eine blutende, vernarbte Fratze zum Vorschein kommt, fühlt man sich sofort an die grotesken Deformationen im Kino von David Cronenberg („Die Fliege“) erinnert.

    Neben der langsam, aber sicher kippenden gesellschaftlichen Stimmung, die sich ebenso als Metapher für die Corona-Jahre wie für die Flüchtlings-Frage lesen lässt, steht vor allem die angespannte Vater-Sohn-Beziehung im Fokus – und das zahlt sich vor allem auch wegen der herausragenden Schauspieler aus: Paul Kircher („Der Gymnasiast“) verkörpert den nach Anschluss suchenden, ob seiner körperlichen Transformation aber verunsicherten Teenager Émile mit einem gerüttelten Maß an Authentizität, während sich Romain Duris („Der Schaum der Tage“) mit seinen ebenso aktionistischen wie verzweifelten Versuche, die unaufhaltsam zerbrechende Familie irgendwie noch zusammenzuhalten, in die Herzen des Publikums spielt.

    Im Gegensatz zu ihren Kolleg*innen kann sich die Polizistin Julia Izquierdo (Adèle Exarchopoulos) sehr gut in die Betroffenen und ihre Angehörigen hineinfühlen.

    Immer, wenn sich Cailly und seine Co-Autorin Pauline Munier ganz auf ihre starken Figuren und ihre atmosphärischen Sets verlassen, ergibt das die tollsten Momente: So etwa, wenn Émile in einem mit morastigen Sümpfen und totem Gehölz postapokalyptisch anmutenden Wald seinem Freund Fix beisteht, der mit seinen (noch) zum Scheitern verurteilten Flugversuchen sowie einer grotesk-blutigen Anmutung während der Übergangszeit zum Adler die wohl tragischste Figur des Films abgibt.

    Zugleich sind die angesprochenen Flugversuche allerdings nur mit mäßigem CGI getrickst – und so ist es absolut begrüßenswert, dass „Animalia“ nie ganz in Richtung eines effektgetriebenen Genrefilms abbiegt, sondern seinen intimen, persönlichen Wurzel treubleibt. Nur bei einer Verfolgungsjagd in ein Waldstück, das von etlichen Mensch-Tier-Hybriden bevölkert wird, die zum Teil inspirationslos wie eine schlechte Na´vi-Kopie anmuten, wäre noch etwas mehr Zurückhaltung in Sachen „CGI“ begrüßenswert gewesen.

    Fazit: Eine einfühlsame, oft berührende Coming-of-Age-Geschichte, die sich zwar der im Fantasy-Genre nicht gerade unverbrauchten Pubertäts-Metapher bedient, dabei aber trotzdem absolut frisch und einzigartig wirkt – selbst wenn das Budget für einige der angestrebten Schauwerte womöglich doch einen Tick zu niedrig war.

     

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