Wenn der Herbst naht
Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
4,0
stark
Wenn der Herbst naht

Eine wunderbar amoralische und sehr lustige Krimi-Komödie

Von Gaby Sikorski

Sein ungeheurer Output macht François Ozon ebenso zum Phänomen wie seine konsequente (und sympathische) Weigerung, sich auf ein bestimmtes Genre festzulegen. Mittlerweile sind es 48 Filme, bei denen er Regie führte und zu denen er oft auch selbst das Drehbuch schrieb. Seit 1988 sind das jede Menge Kurzfilme, Dokumentationen und Musikvideos sowie mindestens 23 Kinofilme. Komödien sind häufig darunter, aber auch Melodramen, Liebesgeschichten und Coming-of-Age-Stories, oft mit queeren Bezügen.

Zuletzt kam Ozons fulminant besetzte, flockig leichte Kriminal-Komödie „Mein fabelhaftes Verbrechen“ mit Isabelle Huppert, Fabrice Luchini, Dany Boon und Nadia Tereszkiewicz in die deutschen Kinos. Darin zeigt sich einmal mehr: Was Ozons Filme oft gemeinsam haben, ist eine gewisse Verspieltheit – als ob er einen diebischen Spaß daran hat, sein Publikum mit verschiedenen Informationen erst zu füttern und dann in die Irre zu führen. Auch „Wenn der Herbst naht“ ist wieder so ein großes Puzzle – und zugleich ein nicht alltäglicher Genre-Mix: Was als witzige Familiengeschichte beginnt, entwickelt sich peu à peu zum vielschichtigen Kriminalfall.

Michelle (Hélène Vincent) und Marie Claude (Josiane Balasko) sind beste Freundinnen – mit einer Leidenschaft fürs Pilzesammeln. Weltkino Filmverleih
Michelle (Hélène Vincent) und Marie Claude (Josiane Balasko) sind beste Freundinnen – mit einer Leidenschaft fürs Pilzesammeln.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht Michelle (Hélène Vincent), eine liebenswerte Kleinstadtrentnerin mit einem hübschen Haus und einem Garten, in dem sie ihr eigenes Gemüse anbaut. Ihre beste Freundin Marie Claude (Josiane Balasko) wohnt gleich um die Ecke. Die beiden Frauen unternehmen viel gemeinsam, und Michelle chauffiert ihre Freundin auch regelmäßig zu dem Gefängnis, in dem ihr Sohn Vincent (Pierre Lottin) einsitzt. Michelle freut sich unterdessen darauf, dass ihr zwölfjähriger Enkel Lucas (Garlan Erlos) mit ihr die Herbstferien verbringen wird. Als ihre Tochter Valérie (Ludivine Sagnier) mit ihm eintrifft, ist schon alles vorbereitet. Doch dann gibt es einen Vorfall, eine Pilzvergiftung, für die offenbar Michelle verantwortlich ist.

Valérie reist stocksauer mit Lucas ab. Michelle ist ebenso untröstlich wie Valérie unnachgiebig. Der Entschluss ihrer Tochter aber steht fest: Michelle darf Lucas nicht mehr sehen. Die alte Dame ist verzweifelt. Bald darauf wird Vincent aus dem Gefängnis entlassen, und Michelle wirkt um Jahre gealtert. Sie bietet Vincent einen Job an, auch deshalb, weil er als Ex-Knacki in der Provinzstadt kaum die Chance hat, eine seriöse Arbeit zu finden. Also hilft Vincent Michelle für 15 Euro bei der Haus- und Gartenarbeit. Dabei bleibt es nicht aus, dass er bemerkt, wie schlecht es Michelle geht. So beschließt Vincent, Valérie aufzusuchen: Er will erreichen, dass sie ihre Entscheidung revidiert. Doch dann gibt es einen weiteren Vorfall…

Die Puzzlestücke werden von Anfang an eingestreut

Mehr soll an dieser Stelle über die Handlung nicht verraten werden. Nur so viel: Es geht unter strenger Nichtbeachtung irgendwelcher Klischees um Schuld, um Wahrheit, um Moral und Doppelmoral, sowie um die niemals endenden Herausforderungen, die eine Familie und eine Freundschaft für alle Beteiligten mit sich bringen. Dabei ist schon der Titel doppelbödig: Der Film spielt nicht nur im meteorologischen Herbst, sondern auch im Herbst des Lebens von Michelle und Marie Claude. Zusammen haben sie viel erlebt und durchgestanden, doch ihre gemeinsame Vergangenheit enthüllt sich erst nach und nach, obwohl es zu Beginn bereits hier und da Andeutungen gibt.

François Ozon verteilt dafür pfiffig dosierte Details, die sich schließlich zu einem Gesamtbild formen, das alles andere als harmonisch ist, aber gerade dadurch ziemlich realistisch wirkt. Ungefähr so realistisch wie das Leben selbst, das ja generell eher selten dramaturgischen Vorgaben folgt. Dabei konterkariert Ozon mit voller Absicht die Erwartungen des Publikums. Unkonventionell und überraschend sind aber nicht nur die Handlungsfäden, die gekonnt miteinander verwebt werden, sondern auch die Darsteller*innen und ihre Charaktere.

Mit der Entlassung von Marie Claudes Sohn Vincent (Pierre Lottin) kommt noch mal eine ganz neue Dynamik in den Film. Weltkino Filmverleih
Mit der Entlassung von Marie Claudes Sohn Vincent (Pierre Lottin) kommt noch mal eine ganz neue Dynamik in den Film.

Als Michelle brilliert Hélène Vincent („Alles außer gewöhnlich“), eine der Grand Dames des französischen Theaters und Films, die in ihrer mehr als 60-jährigen Karriere mit vielen großen Regisseur*innen zusammengearbeitet hat. Mit über 80 Jahren kann sie noch immer strahlen wie ein junges Mädchen – voller Unschuld und Freude. Aber sie kann sich auch innerhalb von Sekunden vollkommen verwandeln. Dann wirkt die eben noch so flotte Oma plötzlich hilfsbedürftig und sogar ein wenig verwirrt. Langsam, aber sicher wird klar, dass sie einiges für sich behält, was vielleicht auch besser nicht offenbart werden sollte. Und Hélène Vincent spielt das sehr genussvoll, sie kokettiert mit ihrem Alter und mit den Stereotypen dazu, und sie steigert damit die Doppelbödigkeit dieser kriminalistisch angehauchten Komödie, zu der sich der Film nach und nach entwickelt.

In Josiane Balasko („Gelobt sei Gott“) als Marie Claude findet sie ihre perfekte Partnerin: eine beste Freundin zum Pferdestehlen, schlagfertig, burschikos und mit trockenem Humor. Pierre Lottin, der gerade in „Die leisen und die großen Töne“ einen schönen Erfolg feiern konnte, macht aus Vincent einen äußerlich stabilen, im Inneren aber durchaus sensiblen Kerl, der die Klischees vom typischen Knastbruder erst scheinbar erfüllt und dann lässig konterkariert. Ludivine Sagnier („Napoleon“) darf als biestige Tochter von Michelle den größtmöglichen Gegensatz zu ihrer liebenswürdigen Mutter verkörpern. Und als jüngstes Familienmitglied erweist sich Garlan Erlos in der Rolle von Lucas als würdiger Enkel seiner klugen Großmutter – vor allem dann, wenn es um das Bewahren von Geheimnissen geht.

Fazit: Eingehüllt in sanfte herbstliche Farben verblüfft die originelle Geschichte durch ihre im Grunde zutiefst unmoralische Grundhaltung. Aber gerade das macht sie so spannend – und zugleich mindestens ebenso sympathisch wie die beiden wunderbaren Hauptdarstellerinnen.

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