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    Waking Life
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Waking Life
    Von Jan Görner

    Träumen, das ist wie Kino im Kopf. Jeder Einzelne von uns träumt, auch wenn wir uns am nächsten Morgen nicht mehr erinnern können. Träumen ist nicht nur wichtig für die Seele, es ist sogar überlebensnotwendig. Mit seinem surrealen Film-Trip „Waking Life" gelang Regisseur Richard Linklater („Ich & Orson Welles") 2001 etwas, das in den letzten Jahren leider immer seltener wurde: traumhaftes Kino mit Köpfchen.

    Ein Junge, für den die Schwerkraft außer Kraft gesetzt scheint. Wenn er sich nicht irgendwo festhält, „fällt" er dem Himmel entgegen. Der Junge wächst zu einem jungen Erwachsenen (Wiley Wiggins) heran, der noch immer dem Himmel entgegen treibt. Der namenlose Protagonist bewegt sich durch eine Traumlandschaft und der Zuschauer folgt ihm, wie er auf verschiedene Personen trifft. Nicht weniger wird verhandelt als die Idee des Klarträumens, der freie Wille und damit die Beschaffenheit der menschlichen Existenz überhaupt...

    Einen Film ins Kino zu bringen, das ist der Traum vieler Regisseure. Doch dazu braucht es harte Arbeit und einen unbändigen Willen, sehr oft auch eine gehörige Portion Glück - und manchmal gar ein kleines Wunder. Als ein solches kann die Realisierung von „Waking Life" gelten. In der notorisch risikoscheuen Filmbranche mutet Linklaters Traum-Exkursion wie ein Schuss ins Blaue an, schließlich handelt es sich bei „Waking Life" in erster Linie um ein Experiment. Zunächst wurde mit Digitalkameras ein handelsüblicher Live-Action-Film realisiert, der später durch das Rotoskopieverfahren, das der Autodidakt Linklater später auch bei „A Scanner Darkly" eingesetzt hat, gleichsam übermalt und verfremdet wurde. So fordert der Regisseur die Sehgewohnheiten des Publikums heraus: Die Bildkomposition wird zur Nebensache, wenn sich das gesamte Sichtfeld in andauernder Bewegung befindet und das Auge sich an dieser bestrickend entrückten Ästhetik nicht satt zu sehen vermag.

    Vor seiner Kamera versammelte Linklater vor allem alte Weggefährten. Neben Hauptdarsteller Wiley Wiggins („The Faculty"), mit dem der Regisseur bereits bei „Dazed and Confused" zusammenarbeite, finden sich auch Ethan Hawke („Gattaca") und Julie Delpy („Broken Flowers") für einen Cameo ein. Und es scheint, als würden die zwei genau da weitermachen, wo sie am Ende von „Before Sunrise" aufgehört haben. Auch Regie-Kollege Steven Soderbergh („Erin Brockovich") gibt sich mit einer kurzen Anekdote über Louis Malle und Billy Wilder die Ehre. Und gegen Ende lässt es sich Richard Linklater auch nicht nehmen, selbst einen fabulierenden Flipper-Spieler zu geben.

    „How many of you out there are on drugs? [...] This is for you. The rest of you, just bear with me." - Richard Linklater auf dem Sundance-Festival 2001

    Bereits in den ersten Minuten wird der Zuschauer Zeuge eines Unfalls, in dessen Folge der junge Mann nicht mehr aus seinem Traum aufwachen zu können scheint. Oder ist es vielmehr so, dass er durch das traumwandelt, was wir als Realität begreifen? Ist Leben an sich nur Fiktion? Ein Wartezimmer für das, was danach kommt? Und während sich der Zuschauer noch fragt, was wohl mit dem namenlosen Mann passiert sein mag, wird langsam klar, dass gängige Denkmuster bei einem Film wie „Waking Life" einfach keine Gültigkeit besitzen. Zum einen sind die Ausgestaltung von Bild und Ton in keiner Weise der Handlung nachgeordnet, Form und Inhalt bilden eine untrennbare Einheit. Das hat den unschätzbaren Vorteil, dass Spoiler in Bezug auf „Waking Life" kaum möglich sind, denn das sinnliche Erlebnis dieses echten Gesamtkunstwerks, das sich ohnehin kaum in Worte fassen lässt, wird durch nachgeschobene Erklärungen nicht im Geringsten beeinträchtigt.

    Nach und nach kommt der Protagonist mit verschiedensten Strömungen der Philosophie in Berührung. Aber auch mit Denkern selbst, die nach ihren eigenen verqueren Lehren leben. Eine Unterscheidung oder Gewichtung nimmt Linklater nicht vor, ohne stringenten narrativen Faden fordert er vom Zuschauer, sich selbst einen Reim auf das Gesehene zu machen. „Waking Life" ist ein Film andauernder Bewegung. So gut wie jede neue Idee geht mit einem Wechsel der Szenerie einher: In der Traumwelt ist nun einmal alles möglich. Mehr Erklärung benötigt Linklater nicht. Dem Zuschauer, der bereit und in der Lage ist, sich auf diese Prämisse einzulassen, winkt ein ganz besonderes Filmerlebnis, aber ein gewisser Vertrauensvorschuss ist bei „Waking Life" dringend notwendig.

    Fazit: Ab und zu ist es lohnenswert, sich von einem Film herausfordern zu lassen. „Waking Life" wird schon aufgrund seiner Kompromisslosigkeit sicher nicht von allen Kinofreunden geliebt, aber dafür ist der hundertminütige Traum-Trip weit mehr als ein Film im klassischen Sinne und mit kaum einem anderen Werk vergleichbar. Richard Linklater vermeidet allzu einfache Antworten auf die tiefschürfenden Fragen, die er mit und in „Waking Life" aufwirft, was aber wiederum nicht heißen soll, dass er keine Farbe bekennt oder gar in Beliebigkeit versandet. Es kann eben nicht immer darum gehen, alles eindeutig auf einen Nenner zu bringen - im Film genauso wenig wie im echten Leben, was immer das auch sein mag.

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