Darum beschert uns der "Emilia Pérez"-Skandal das spannendste Oscar-Rennen aller Zeiten
Björn Becher
Björn Becher
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Seit mehr als 20 Jahren schreibt Björn Becher über Filme und Serien. Hier bei FILMSTARTS.de kümmert er sich um "Star Wars" - aber auch um alles, was gerade im Kino auf der großen Leinwand läuft.

Mit 13 Nominierungen galt „Emilia Pérez“ als großer Favorit bei den Oscars. Nach mehreren Kontroversen ist davon nichts mehr übrig – und plötzlich erleben wir das spannendste Oscar-Rennen aller Zeiten. Wir erklären euch die Hintergründe.

Schon nach der Weltpremiere in Cannes mischten sich in die Begeisterung über das Gangster-Musical „Emilia Pérez“ auch kritische Stimmen. Mit der Zeit nahm die Kritik an dem Film zu, der von einer Anwältin (Zoe Saldana) handelt, die einem berüchtigten Kartellboss hilft, ein geheimes neues Leben als Frau zu beginnen.

Wird Mexiko in diesem Film nicht ziemlich stereotypisch dargestellt? Ist die Repräsentation von Transgender-Personen vielleicht doch nicht so modern, sondern eher rückschrittlich? Das waren neben den Spanischkünsten von Nebendarstellerin Selena Gomez die dominierenden Themen. Doch so richtig schienen sie dem Film nichts anhaben zu können. Zu beliebt war das kraftvolle Spektakel beim Gros des Publikums und auch vielen Verantwortlichen in Hollywood.

Trotz erster Kontroversen: Golden-Globe-Rekord und Oscar-Favorit

Bei den Golden Globes stellte „Emilia Pérez“ mit zehn Nominierungen einen Rekord auf und holte am Ende mit vier Preisen mehr Auszeichnungen als jeder andere Film. Als am 23. Januar 2025 die Oscarnominierungen bekannt gegeben wurden, fiel auch kein Titel so oft wie der von „Emilia Pérez“. 13 Nominierungen gab es, nur eine wenige als die bisherigen Rekordhalter „Alles über Eva“, „Titanic“ und „La La Land“. „Emilia Pérez“ war der große Favorit. Viele waren sich sicher, dass am Ende der Award-Saison der Goldjunge für den besten Film rausspringen wird.

Doch das ist nun komplett unwahrscheinlich geworden – und es hat nichts mit dem Film selbst zu tun, sondern vor allem mit Hauptdarstellerin Karla Sofía Gascón, aber auch dem Oscar-Wahl-Prozess.

So killen alte Tweets von Karla Sofía Gascón die Oscar-Chancen

Zuletzt kamen zahlreiche ältere Beiträge von Karla Sofía Gascón auf dem Kurznachrichtendienst X (ehemals: Twitter) ans Licht, in welchen sich die „Emilia Pérez“-Darstellerin unter anderem rassistisch und islamfeindlich äußerte. Auch die Oscars und sogar ihre spätere Kollegin Selena Gomez wurden in diesen alten Nachrichten beleidigt.

Im Zuge dessen entfernte der in den USA für den Film verantwortliche Streamingdienst Netflix Gascón aus der Oscar-Kampagne. Sie tritt im Rahmen der Award-Saison nicht mehr öffentlich auf, macht keine Werbung für den Film mehr. Es ist ein Versuch der Schadensbegrenzung, der aber wahrscheinlich nicht mehr zum Erfolg führt.

Das Resultat: In der Königskategorie für den besten Film haben wir das vielleicht spannendste Oscarrennen aller Zeiten. Um zu verstehen, wie es dazu kommen wird, müssen wir euch jetzt den Voting-Prozess in dieser Kategorie erklären.

So läuft die Oscar-Abstimmung über den besten Film

Die rund 11.000 Mitglieder*innen der Academy geben in dieser Kategorie für den besten Film nämlich nicht einfach ihre Stimme ihrem Favoriten. Sie müssen alle (in diesem Jahr zehn) nominierten Filme von Platz 1 bis 10 ranken. Bei der Auswertung der Stimmen geht man dann wie folgt vor:

  • Es wird zuerst nur auf die jeweils ersten Plätze geschaut und dabei quasi zehn Haufen gebildet. Auf jedem sind alle Stimmzettel, die den Film auf Platz 1 haben. Sollte ein Film direkt auf über 50 % der Stimmzettel auf dem 1. Platz landen, hat er gewonnen.
  • Falls (was garantiert der Fall sein wird) kein Film die absolute Mehrheit (50 % + 1 Stimme) hat, wird der Film mit den wenigsten Erststimmen eliminiert.
  • Bei allen Stimmen des eliminierten Films wird geschaut, welcher Titel als nächsthöchstes platziert ist. Entsprechend werden die Stimmzettel dann quasi auf andere Haufen verteilt.
  • Sollte nun ein Film die absolute Mehrheit haben, hat er gewonnen. Wenn nicht, wird der neue letztplatzierte eliminiert und seine Stimmzettel wieder verteilt.
  • Dieser Prozess wird so lange wiederholt, bis ein Film die Mehrheit erreicht und gewinnt.

Doch warum reduziert dieser Wahlprozess die Oscar-Chancen von „Emilia Pérez“ so massiv? Der Film hat weiterhin seine Fans, die ihn auf einen der vorderen Plätze auf ihren Stimmzetteln packen werden. Aber viele, die vielleicht schon zuvor ihre Probleme mit dem Muscial-Thriller hatten, oder auch sonst einfach sauer sind, werden ihn nach ganz hinten auf ihren letzten Platz packen.

Das heißt, dass der Stimmhaufen von „Emilia Pérez“ mit hoher Wahrscheinlichkeit im Verlauf des Auswertungsprozesses kaum anwachsen wird und es als unwahrscheinlich gilt, dass er irgendwann die nötige 50-Prozent-Marke überschreitet.

Gleich sechs der zehn Filme könnten den Oscar für den besten Film gewinnen

Statt einem klaren Favoriten haben wir so nun plötzlich ein ausgesprochen spannendes Rennen in der Königskategorie des besten Films. Normalerweise zeichnet sich deutlich im Vorfeld der Oscars ab, welchen Film die Mehrheit der Academy vorne sieht. 2024 war zum Beispiel früh zu erwarten, dass „Oppenheimer“ am Ende triumphieren wird. Doch mit „Emilia Pérez“ ist plötzlich der Favorit weggebrochen. Wer gewinnt jetzt?

Viele sehen „Der Brutalist“, „Anora“ und „Konklave“ ganz vorne. Da haben wir mit „Der Brutalist“ ein episches 3,5-Stunden-Drama, das so sensationell ist, dass es eigentlich jeden Preis bekommen muss. Vielleicht überwältigt es manche aber zu sehr (und hat zudem seine eigene Kontroverse um KI-Einsatz)? „Anora“ ist derweil ein perfekter Vertreter eines jüngeren Kinos, das Hollywood schon länger aufmischt. Doch ist die Academy genug verjüngt worden für dieses Werk? Der deutsche Regisseur Edward Berger hat mit „Konklave“ opulentes Oscar-Kino geschaffen, sodass man diesen Film auf der Rechnung haben muss.

Der Brutalist
Der Brutalist
Von Brady Corbet
Mit Adrien Brody, Felicity Jones, Guy Pearce
Starttermin 30. Januar 2025
User-Wertung
3,8
Filmstarts
5,0
Vorführungen (142)

Doch ganz von der Liste darf man auch „Wicked“ nicht streichen – der Super-Hit könnte die Musical-Fans hinter sich vereinen und ist die bekannteste Marke im Rennen. Das Branchenmagazin Variety überraschte derweil gerade mit der wagemutigen Vorhersage, dass das Bob-Dylan-Biopic „Like A Complete Unknown“ ihr Top-Favorit sei. Für den Film könnte sprechen, dass ihm gerade der beschriebene Wahlprozess nützt:

Er wird womöglich nicht bei vielen Leuten auf dem ersten Platz stehen. Sind es aber genug, um die ersten ein bis zwei Runden zu überstehen, könnte sein Stimmzettel-Haufen wachsen. Denn fast alle scheinen den Film sehr gut zu finden und ihn auf vorderen Plätzen einzusortieren. Ganz ausschließen darf man zudem „Emilia Pérez“ nicht. Dafür ist die bisherige Rolle in der Award-Saison zu beeindruckend. Am Ende können natürlich genug Abstimmende sagen, dass zumindest die finale Kontroverse ja nichts mit dem Film selbst zu tun hat.

Like A Complete Unknown
Like A Complete Unknown
Starttermin 27. Februar 2025 | 2 Std. 20 Min.
Von James Mangold
Mit Timothée Chalamet, Edward Norton, Elle Fanning
User-Wertung
3,8
Filmstarts
4,0
Vorführungen (632)

Keine Chancen haben dürften „The Substance“, „Für immer hier“, „Dune 2“ und „Nickel Boys“. Für all diese Titel ist es schon eine beeindruckende Leistung, dass sie in der Königskategorie nominiert sind. Dass rund ein Monat vor der Verleihung aber noch sechs verschiedene Filme für den Gewinn diskutiert wurden, gab es in der Oscar-Geschichte noch nie. Meist haben wir hier schon einen klaren Favoriten oder zumindest ein enges Rennen zwischen zwei oder maximal drei Titeln.

Abgegeben werden die Stimmen übrigens in der Woche vom 11. bis zum 18. Februar 2025. Viel Zeit, ihre Stimme zu überdenken, haben die Wählenden also nicht mehr. Trotzdem könnte sich für uns schon nach und nach das Rennen lichten. Vor den Oscars werden nämlich noch die Preise der einzelnen Hollywood-Gilden verliehen.

In der Nacht von Samstag auf Sonntag (8./9. Februar) gibt es zum Beispiel die PGA Awards der Produzent*innen sowie die DGA Awards der Regisseur*innen. Eine Woche später folgt die Drehbuch-Gilde, eine weitere Woche später die Schauspielgewerkschaft. Da all diese auch zu den Kerngruppen der Oscar-Academy gehören und sich Teile der Wählenden decken, bekommen wir dann vielleicht ein klareres Bild, wer nun der neue Favorit bei den Oscars 2025 ist.

Droht "Emilia Pérez" sogar ein Oscar-Negativ-Rekord?

Der einstige Favorit „Emilia Pérez“ dürfte dagegen mit deutlich weniger Goldjungen nach Hause gehen, als alle kürzlich noch vermuteten. Selbst die ursprünglich mal als garantiert angesehene Auszeichnung als bester fremdsprachiger Film ist unwahrscheinlicher geworden. Hier sehen viele längst das immer mehr an Zuspruch gewinnende, richtig starke brasilianische Drama „Für immer hier“ (deutscher Kinostart am 13. März 2025) vorne.

Wenn „Emilia Pérez“ ganz leer ausgehen würde, wäre das sogar ein Negativ-Rekord. So viele Nominierungen und keinen Gewinn – das gab es noch nie. „Am Wendepunkt“ und Steven Spielbergs „Die Farbe Lila“ sind mit elf Nominierungen ohne eine einzige Auszeichnung bisher die Halter dieser „Bestmarke“.

Dass „Emilia Pérez“ sie übertrifft, ist aber trotz all der Kontroversen nicht gesagt. Gerade „Avatar“-Star Zoe Saldana darf sich weiterhin sehr gute Chancen auf die Auszeichnung als Beste Nebendarstellerin ausrechnen. Keine der Diskussionen hat mit ihr zu tun, sie hat sich klar positioniert – da dürften nicht zu viele sie plötzlich für etwas bestrafen, mit dem sie nichts zu tun hat und nicht weiterhin ihre grandiose Darbietung feiern. Zudem ist auch eine Auszeichnung in der Kategorie „Bester Song“ sehr gut möglich. Hier stellt „Emilia Pérez“ sogar zwei der fünf nominierten Titel, das Lied „El Mal“ gilt als Top-Favorit.

Die Oscars 2025 werden in der Nacht vom 2. auf den 3. März 2025 verliehen. Die Übersicht aller nominierten Filme und Filmschaffenden gibt es im folgenden Artikel:

Die Oscar-Nominierungen 2025: Netflix-Rekordfilm vs. 3,5-Stunden-Meisterwerk – und auch Deutschland hat eine Chance!
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