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    1917
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    1917

    In (fast) einer Einstellung zum Oscar-Kandidaten!

    Von Björn Becher

    Im Vorfeld sorgte Sam Mendes‘ Weltkriegsfilm vor allem deshalb für Wirbel, weil die 110 Minuten von „1917“ so wirken, als sei nahezu der komplette Film am Stück und in einer einzigen Einstellung gedreht worden. Und ja, es ist brillant, was der zweifache Bond-Regisseur („Spectre“, „Skyfall“) und sein Team um Kameragott Roger Deakins („No Country For Old Men“) hier optisch geschaffen haben. Aber am Ende ist „1917“ deswegen so herausragend, weil eben nicht nur die Verpackung, sondern auch der Inhalt stimmt: Der Regisseur und seine Co-Autorin Krysty Wilson-Cairns („Penny Dreadful“) bescheren uns eine unglaublich emotionale und vor allem sensationell packende Geschichte. Die ohnehin hohe Spannung verstärkt Mendes mit seiner Inszenierung nur noch weiter, so dass nicht wenige Zuschauer das Kino mit abgekauten Fingernägeln verlassen werden.

    (Wir werden in diesem Text größere Spoiler vermeiden. Aber es ist nicht möglich, auf jedes kleine inhaltliche Detail zu verzichten, selbst wenn dies beim Schauen die Spannung fördert. Daher empfehlen wir, sich „1917“ erst anzuschauen und dann zu dieser Kritik zurückzukehren.)

    In "1917" gibt es einen Wettlauf gegen die Zeit.

    Es ist der 6. April 1917. Seit einer Ewigkeit bekämpfen sich die Alliierten und die Deutschen irgendwo mitten in Frankreich, ohne dass sich die Frontlinie auch nur um einen Millimeter verschiebt. Dabei wurde den britischen Soldaten schon vor Weihnachten eine finale Offensive versprochen. Doch nun sollen sich die deutschen Truppen plötzlich doch weit zurückgezogen haben. Ein 1.600 Mann starker britischer Trupp sieht dies als Zeichen von Schwäche und plant an der scheinbar neuen Frontlinie im Morgengrauen einen entscheiden Angriff. Doch das alliierte Hauptquartier hat Wind davon bekommen, dass es sich um eine deutsche Falle handelt: 1.600 Mann gehen in den sicheren Tod…

    Ihre letzte Chance auf Rettung sind die jungen Soldaten Blake (Dean-Charles Chapman) und Schofield (George MacKay), die den Auftrag haben, eine Warnung zu übermitteln, damit der Angriff doch noch abgeblasen wird. Dafür müssen sie allerdings mitten durchs Niemandsland zwischen den Fronten. Aber haben die Deutschen das Gebiet wirklich verlassen? Welche Gefahren lauern dort sonst noch? Und werden sie es am Ende rechtzeitig schaffen?

    Von den vielen Schnitten ist nur einer noch zu sehen

    Man kommt nicht umhin, die herausragende Inszenierung von „1917“ zu loben – und dabei natürlich in erster Linie über den One-Shot-Ansatz des Films zu sprechen: Es gibt nur ein einzigen erkennbaren, an dieser Stelle ganz bewusst gesetzten Schnitt. Im Gegensatz zu etwa „Victoria“ wurde „1917“ aber nicht wirklich in einer einzigen Einstellung gedreht. Stattdessen haben Sam Mendes und sein Team über Wochen und Monate mit vielen Takes gefilmt und mit dem aufwändigen Schnittprozess dafür gesorgt, dass es so aussieht, als ob es überhaupt keine Schnitte gibt.

    Das wurde so ähnlich in der Filmgeschichte schon einige Mal gemacht – etwa in Alfred Hitchcocks „Cocktail für eine Leiche“ oder in Alejandro G. Iñárritus „Birdman“. Aber keiner der Vorgänger hat dabei auch nur ansatzweise eine solche Perfektion erreicht –vor allem nicht mit diesem Aufwand und dieser Opulenz. Wo die Kamera sonst gerne mal an einer schwarzen Wand vorbeifährt, um so den Schnitt zu verheimlichen, halten Mendes und Deakins sie hier ständig in Bewegung, sodass sie absolut glaubhaft den Eindruck vermitteln, doch alles an einem Stück gedreht zu haben. Sie lassen die Kamera sogar kreisen, um ganze Panoramen einzufangen, was eine minutiöse Planung, lange Proben und eine unglaublich agile Crew erforderte.

    "1917" ist technisch herausragend.

    Wer sich für die Technik hinter dem Filmemachen interessiert, wird schon allein deswegen bei „1917“ nicht aus dem Staunen herauskommen. Doch der inszenatorische Ansatz ist alles andere als ein Gimmick, das uns nur verblüffen soll. Er trägt den Inhalt. Dasselbe gilt für die herausragenden Bilder von Deakins, der uns so nah und so unmittelbar in die dreckig-verschlammten Schützengräben des Ersten Weltkrieges holt, dass man das Gefühl hat, selbst mit den Hauptfiguren durch enge Unterstände und über Leichen zu schleichen, zu hetzen und zu fliehen.

    Mit dieser eindrucksvollen Arbeit dürfte der nach 13 vorherigen Nominierungen 2018 für „Blade Runner 2049“ endlich mit dem überfälligen Oscar bedachte Deakins sein zweiter Goldjunge in drei Jahren so gut wie sicher sein – und das trotz bildgewaltiger Konkurrenz von „Once Upon A Time… In Hollywood“ und „The Irishman“. So wie der scheinbar fehlende Schnitt und die sensationellen Bilder stehen auch das sensationelle, mit umfangreichen, aber fast nie bemerkbaren Computereffekten unterstützte Produktionsdesign von Dennis Gassner („Road To Perdition“) sowie der Score von Thomas Newman („Wall-E“) immer im Dienst des Films.

    Schmerzhafte Authentizität

    Während die beeindruckenden Schützengräben, zerbombten Hausüberreste und von Ratten zerfressenen Leichen dafür sorgen, dass der Erste Weltkrieg im Kino noch nie so authentisch wirkte, dient Newmans Musik vor allem dazu, die Spannung anzuziehen. Immer wenn es gefährlich wird, setzt die Musik ein. Das ist simpel, aber unglaublich effektiv – und zugleich sehr nützlich, weil „1917“ bewusst eine begrenzte Perspektive bietet: Mendes bleibt immer ganz nah dran an den Figuren und verzichtet so auf eine breite Übersicht über etwa das Schlachtfeld – so weiß man meist nicht, was gerade vor oder hinter den Protagonisten passiert. Mendes weiß diese konstante Unsicherheit beim Zuschauer wirkungsvoll für seine Zwecke zu nutzen.

    Hinter jeder Ecke lauert der Tod. Sind die deutschen Truppen wirklich abgezogen oder warten ihre Scharfschützen hinter der nächsten Häuserwand? Nahezu jede Sekunde muss man um wirklich jede Figur bangen, denn schließlich dürfte allein durch die Werbematerialien samt Erwähnung prominenter Nebendarsteller wie Benedict Cumberbatch, Mark Strong, Colin FirthRichard Madden oder „Fleabag“-„Hot Priest“ Andrew Scott (sensationelle Szenendieb-Performance) jedem bekannt sein, dass „1917“ kein Zwei-Personen-Film ist (bei dem das lange Überleben mindestens einer Person schon mal gesichert wäre).

    Benedict Cumberbatch gehört zu den prominenten Stars in "1917".

    Mit der Einführung der jungen Soldaten Blake und Schofield wird dabei zu Beginn eine Nähe zu zwei Identifikationsfiguren geschaffen – auch hier mit einem zwar simplen, aber effektiv genutzten Kniff. Blake bekommt den Auftrag nicht nur, weil er gut Landkarten lesen kann, sondern auch, weil er eine persönliche Motivation mitbringt: Sein Bruder ist unter den 1.600 Soldaten, die in den sicheren Tod zu rennen drohen. Schofield fehlt diese Motivation. Als er hört, wie Blake mitgeteilt wird, sich „mit einem Kameraden“ beim Kommando zu melden, schließt er die Augen und stellt sich schlafend – in der Hoffnung, dass der Kelch an ihm vorüber geht, aber auch wissend, dass er als Freund und einzige direkt greifbare Person ohnehin gewählt wird.

    Sehr unterschiedlich gehen die jungen Männer dann das scheinbar aussichtslose Unterfangen an. Blake rennt sofort los, jede Sekunde zählt, obwohl Schofield drängt, auf die zumindest einen Hauch mehr Sicherheit bietende Nacht zu warten. Während Mendes hier trotz des ruhigen, sich als starker Kontrast erweisenden Anfangs im Gras schnell das Tempo anzieht und wir das Duo erst einmal bei einer Hatz durch die eigenen Stellungen begleiten, findet er im Verlauf des Films auch immer Zeit für entschleunigende, berührende Momente – so zum Beispiel eine unglaublich emotionale Szene mit einem kleinen Baby.

    Ein persönliches Projekt

    Gerade dieser Kontrast verdeutlich noch einmal deutlich die Schrecken des Krieges, denn diesen illustriert man eben nicht nur über Aufnahmen Monate alter Leichen im Schlamm. Wie jüngst auch schon Peter Jacksons Dokumentation „They Shall Not Grow Old“ verdeutlichte, wurde dieser Erste Weltkrieg hauptsächlich von jungen, überforderten Männern bestritten, die nicht wussten, wie ihnen geschieht, wofür sie kämpften und sich aus falschem Patriotismus verpflichteten. Und genau solche Männer stapeln sich hier eng in den Schützengräben.

    Für den Regisseur ist „1917“ eine ganz persönliche Sache. Sein Großvater diente im Ersten Weltkrieg. Er war aufgrund seiner geringen Körpergröße als Bote im Einsatz, beförderte Nachrichten. Der deutsche Rückzug auf die sogenannte Siegfriedstellung bildet zwar den realen Hintergrund, aber am Ende waren es doch die Erzählungen des Opas über jene Zeit, die Mendes erst zu „1917“ inspiriert haben. Dass es keine Heldengeschichten waren, verriet uns der Filmemacher nicht nur im Interview, er lässt es auch im Film immer wieder durchschimmern: Ohne viel zu erklären oder gar von einer Nebenfigur Fakten runterrasseln zu lassen, führt er uns die ganze Absurdität dieses Stellungskampfes um wenige wertlose Meter Land vor Augen. Das macht „1917“ am Ende trotz seiner atemberaubenden Spannung zugleich auch zum bewegenden Anti-Kriegsfilm.

    Fazit: „1917“ ist bildgewaltig, spannend und berührend. Unbedingt im Kino schauen!

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