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    Das Geheimnis von Marrowbone
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Das Geheimnis von Marrowbone
    Von Antje Wessels

    Seit Beginn des Jahrtausends hat sich bereits der ein oder andere Schocker aus Spanien als echte Bereicherung des Horrorgenres erwiesen. Das Spektrum reicht von Guillermo del Toros „The Devil’s Backbone“ über „[Rec]“ und die Gruselthriller von Oriol Paulo („Der unsichtbare Gast“) bis zu J.A. Bayonas melancholischer Schauermär „Das Waisenhaus“. Deren Drehbuchautor Sergio G. Sánchez legt nun mit „Das Geheimnis von Marrowbone“ seine erste Kinoregiearbeit vor. Dabei stand Bayona („Jurassic World 2“) seinem alten Weggefährten, der mit ihm 2012 auch am Katastrophendrama „The Impossible“ gearbeitet hat, als Produzent mit Rat und Tat zur Seite. Gemeinsam konzipierten die beiden Experten auf dem Gebiet des subtilen Psychohorrors ein gruseliges Familiendrama, bei dem sich die durchaus überraschend verlaufende Handlung viel stärker ins Gedächtnis brennt als die zurückhaltend dosierten Schockeffekte.

    Amerika, Ende der 1960er Jahre: Rose (Nicola Harrison) und ihre vier Kinder Jack (George MacKay), Jane (Mia Goth), Billy (Charlie Heaton) und Sam (Matthew Stagg) fliehen vor dem gewalttätigen Ehemann und Vater von der Stadt in die Einöde. Auf dem alten Marrowbone-Anwesen finden sie Schutz und beschließen, nicht nur den Namen des Ortes anzunehmen, sondern auch ihn zu ihrer eigenen Sicherheit nie wieder zu verlassen. Als Rose infolge einer schweren Krankheit verstirbt, sind die Kinder allerdings plötzlich auf sich allein gestellt. Um nicht in die Obhut eines Kinderheims gegeben zu werden, verheimlichen sie den Tod der Mutter und isolieren sich immer weiter, bis Jack sich eines Tages in die charmante Bibliothekarin Allie (Anya Taylor-Joy) verliebt und immer häufiger in die Stadt fährt, um sich mit ihr zu treffen. Dabei zieht er allerdings auch die Aufmerksamkeit des Anwalts Tom (Kyle Soller) auf sich, der dringend ein paar organisatorische Dinge mit Jacks Mutter zu besprechen hat. Es droht ungewollter Besuch in Marrowbone - und dann kommt es auch noch zu übernatürlichen Vorkommnissen auf dem Anwesen…

    Hatte man bei Horrorfilmen der jüngeren Vergangenheit immer mal wieder das Gefühl, die Story existiere einzig und allein als Vorwand für die Platzierung möglichst vieler Schockeffekte, steht in „Das Geheimnis von Marrowbone“ von Anfang bis Ende das traurige Schicksal der vier Hauptfiguren im Fokus. Wie sich die Kinder auf dem Anwesen einleben, schon bald von ihrer geliebten Mutter Abschied nehmen und sich anschließend gegen den Verkauf ihres neuen Zuhauses zur Wehr setzen müssen, ist klassischer Dramenstoff und hat mit reißerischem Horror wenig zu tun. Zwar kommt es durchaus zu einigen gruseligen Momenten, diese dürfen sich aber ohne jede plakative Effekthascherei aus der Situation entfalten: Hier rutscht mal ein Bettlaken von einem Spiegel, dort geht mal eine Fensterscheibe zu Bruch.

    Regisseur Sánchez und sein Kameramann Xavi Giménez („Der Maschinist“) etablieren mit beunruhigenden Kamerafahrten und raffinierten Licht- und Schattenspielen eine äußerst unheimliche Atmosphäre, das verwinkelte Haus mit seinen schier endlosen Gängen, der antiken Einrichtung und seinen unzähligen Baumängeln tut sein Übriges. Verstärkt wird die Wirkung des Ganzen durch den klugen erzählerischen Kniff, dass die Existenz eines übernatürlichen Wesens von Anfang an als gegeben etabliert wird. Anders als in den meisten klassischen Haunted-House-Filmen wie etwa „Conjuring“ geht es in „Marrowbone“ also gar nicht erst um die Frage, ob es spukt und wie man das eventuell als Spuk zu identifizierende Phänomen wieder loswird. Sondern eher darum, wie man sich mit dem unzweifelhaft vorhandenen Übernatürlichen arrangieren kann.

    Was es mit dem besagten Spuk auf sich hat – sowie ein weiteres Detail zur dramatischen Familiengeschichte der vier Kinder – enthüllen die Macher schließlich mit einem zwar durchaus aus anderen Genrefilmen bekannten, hier aber gleichermaßen zurückhaltend wie plausibel inszenierten Twist. Von der Effektivität und der Glaubwürdigkeit dieser Wendung hängt viel ab, daher setzt Regisseur und Drehbuchautor Sergio G. Sánchez auf ein recht straffes Erzähltempo und erlaubt sich und uns nahezu keine Pausen, in denen man dazu käme, das Gezeigte auf Ungenauigkeiten und Probleme abzuklopfen. Am Ende werden schließlich alle Fragen schlüssig beantwortet und selbst jene Elemente, bei denen vorher etwas unklar war, was mit ihnen bezweckt wird, finden ihren sinnvollen Platz.

    Obwohl es sich bei „Das Geheimnis von Marrowbone“ um eine spanische Produktion handelt, wurde aus Gründen der internationalen Vermarktung auf Englisch gedreht. So konnte Sánchez einige hervorragende US-Nachwuchsschauspieler verpflichten, die den Film mit intensiven Darbietungen veredeln. An vorderster Front überzeugt Mia Goth („A Cure For Wellness“) als ihre Geschwister liebevoll umsorgende Jane, die in ihrer Figur Stärke und Zerbrechlichkeit vereint. Auch George MacKay („Captain Fantastic“), „Stranger Things“-Star Charlie Heaton und der bei den Dreharbeiten gerade einmal acht Jahre alte Matthew Stagg („Krieg und Frieden“) tragen ihren Teil zum sehr glaubwürdig wirkenden familiären Zusammenleben auf der Leinwand bei. Die schon in M. Night Shyamalans „Split“ beeindruckende Anya Taylor-Joy hingegen hat zwar nur eine kleine Rolle, tut sich jedoch in den toughen Momenten des packenden, wenngleich einen Tick zu reißerischen Finales hervor.

    Fazit: Die stilsicher inszenierte und gut besetzte Gruselmär „Das Geheimnis von Marrowbone“ ist kein grobschlächtiger Geisterhaus-Schocker, sondern eine dramatische Familiengeschichte mit einer Handvoll soliden Horroreffekten, in der selbst oft gesehene Wendungen und Motive einen überraschenden Dreh erhalten.

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