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    The Beast
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    The Beast

    "Lost Highway" im KI-Zeitalter

    Von Christoph Petersen

    In der ersten Szene sehen wir Léa Seydoux („James Bond – No Time To Die“) allein vor einem Green Screen. Aus dem Off ruft eine körperlose Stimme Regieanweisungen herein: Sobald das Biest erscheint, solle sie erschrocken schauen, kreischen, das Messer vom Tisch nehmen! Was genau das für ein Biest ist, vor dem sie sich offenbar höllisch in Acht nehmen muss und nach dem nun auch der neue Film von Bertrand Bonello („Zombi Child“) benannt ist, erfahren wir erst später – oder vielleicht auch gar nicht: Denn den vollen Durchblick sollte man selbst nach den kompletten 146 Minuten von „The Beast“ besser nicht erwarten.

    Das in den Jahren 1910, 2014 und 2044 spielende Sci-Fi-Epos ist sicherlich vollkommen einzigartig – und trotzdem reiht sich Bonello in gewisser Weise in die Tradition solcher Mystery-Mindfucks wie „Lost Highway“ und „Mulholland Drive“ ein. Immer wieder kommen Elemente plötzlich in mehreren Zeitebenen vor – und man darf sich gerne den Kopf darüber zermartern, was genau das alles zu bedeuten hat. Aber weil „The Beast“ thematisch doch eher vage bleibt, wird man damit nicht allzu weit kommen, stattdessen steht wie bei David Lynch zunächst einmal die pure Seherfahrung im Vordergrund. Und was die angeht, erhebt sich eine Episode noch einmal klar über die anderen.

    Gabrielle (Léa Seydoux) hat das Gefühl, Louis (George MacKay) schon ewig zu kennen…

    Im Jahr 2044 bewegen sich die Menschen nur noch mit Gasmasken durch das leergefegte Paris, in dem inzwischen eine Arbeitslosigkeit von 67 Prozent herrscht. Der Grund dafür ist eine KI, die nicht nur alle gesellschaftlichen Fragen bestimmt, sondern viele Aufgaben auch direkt selbst erledigt. Dazu gehört auch die Verteilung der übrigen Arbeit: Gabrielle (Léa Seydoux) ist für die Temperaturprüfung von Schaltkreisen zuständig, hätte aber lieber einen anspruchsvolleren Job. Dafür müsste sie jedoch zunächst ihre DNA „reinigen“ lassen:

    Bei diesem Prozess versetzt sie eine Maschine in ihre frühere Leben zurück, um so eventuelle Traumata aufzuarbeiten. Denn nur ohne all diesen angestauten emotionalen Ballast wäre sie dazu in der Lage, vollkommen rationale – und damit KI-konforme – Entscheidungen zu treffen. So begegnet Gabrielle im Paris der Jahre 1910 und 2044 sowie im Los Angeles des Jahres 2014 immer wieder Louis (George MacKay) – und entwickelt dabei schnell das Gefühl, dass das alles offenbar auf eine unausweichliche Katastrophe zusteuert…

    Vorwärts, rückwärts, alles durcheinander

    „The Beast“ ist auch ein Film über Vorherbestimmung – und so macht er sich gar nicht erst die Mühe, zwischen Gabrielle und Louis glaubhaft die Funken sprühen zu lassen, als sie sich im Jahr 1910 auf einem vornehmen Ball begegnen. Die Erzählung mag von der ewigen (oder zumindest einer mehr als 130 Jahre umspannenden) Liebe handeln – aber dafür köcheln die Gefühle auf Sparflamme. „The Beast“ ist ein verkopfter Film – und dem passen sich die Schauspieler*innen mit ihren Performances an. Oder kurz: Die (eventuellen) Verbindungen zwischen den Zeitebenen faszinieren – aber sie lassen einen womöglich auch ziemlich kalt.

    Zumindest endet der Abschnitt mit einem spektakulären Setpiece – schließlich ist 1910 auch das Jahr des zweitgrößten Seine-Hochwassers der Geschichte: So bleibt kaum eine andere Möglichkeit, als durch die Flure eines halbuntergangenen Hauses zu schwimmen, um der in Brand geratenen Puppenmanufaktur zu entkommen. Diese gehört Gabrielles verlassenem Mann – und auch in den späteren Episoden spielen Puppen eine Rolle: 2014 ist es eine freakige sprechende Plastikpuppe, 2044 sogar eine aus Fleisch und Blut (Guslagie Malanda), die Gabrielle als Unterstützung während des Reinigungsprozesses zur Seite gestellt wird.

    Alles deutet aufs Jahr 2014!

    Im Jahr 2044 versetzt einen die Maschine, bei der sich Gabrielle in eine mit einer Art Öl oder Teer gefüllten Wanne legen muss, in die früheren Leben zurück – und in diesen wendet sich die Protagonistin wiederum an Hellseherinnen (1910 noch ganz oldschool, 2014 dann schon online), um eine Verbindung zur Zukunft aufzubauen. Man sieht, es ist kompliziert – zumal da ja auch noch die Bedeutung der Tauben sowie einige kryptische Warnhinweise hinzukommen. Aber gerade, als das womöglich ermüdend zu werden droht, springt „The Beast“ nach einer guten Stunde ins Jahr 2014 …

    … und diese Episode reißt es voll raus: Gabrielle ist ein angehendes Model im erdbebenanfälligen Los Angeles, während die 30-jährige Jungfrau Louis gleich zu Beginn ein Selfie-Video aufnimmt, in dem er seine Rache an allen ihn verschmähenden Frauen ankündigt – eine Szene, die gleichermaßen belustigt und verstört. „The Beast“ entwickelt sich zwischenzeitig fast schon zum Slasher-Horror, nur dass Bonello weiterhin mit surrealen Störeffekten wie sich plötzlich in Dauerschleife wiederholenden Einstellungen arbeitet (ja, da spürt man einen Hauch von „Funny Games“).

    Sogar Szenen aus der „Jackass“-Parodie „Trash Humpers“ von „Spring Breakers“-Regisseur Harmony Korine, in dem auf alt geschminkte Männer so tun, als würden sie Sex mit Müll(-tonnen) haben, hat Bonello in seinen Film mit integriert. So wachsen die möglichen Interpretationsmöglichkeiten exponentiell immer weiter an – aber während die einen nach dem Kinobesuch noch ausgiebig und angeregt diskutieren, werden mindestens genauso viele auch einfach nur glücklich sein, dass nach fast zweieinhalb Stunden endlich der Abspann läuft.

    Fazit: Ein entweder faszinierendes oder frustrierendes, aber dafür garantiert einmaliges Leinwanderlebnis (und weil der Autor beim zweiten Sehen endgültig voll im Lager „faszinierend“ angekommen ist, wurde auch die Sternewertung dieser Kritik im Nachhinein noch einmal von 3 auf 4 Sterne angepasst).

    Wir haben „The Beast“ beim Filmfestival Venedig 2023 und anschließend noch einmal beim Filmfest Hamburg 2023 gesehen.

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