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    Shadow Dancer
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Shadow Dancer
    Von Carsten Baumgardt

    Der blutige, über Dekaden geführte Nordirlandkonflikt zwischen der britischen Regierung und der Irisch Republikanischen Armee (IRA) kostete im Laufe der Jahrzehnte rund 1.800 Menschen das Leben – Sicherheitskräften, IRA-Mitgliedern und Zivilisten. Erst 2005 gab die IRA auf und entwaffnete sich bis 2007 komplett selbst. Filmemacher von Rang und Namen wie Jim Sheridan („Im Namen des Vaters", „Der Boxer"), Neil Jordan („The Crying Game", „Michael Collins"), Alan J. Pakula („Vertrauter Feind"), Paul Greengrass („Bloody Sunday"), Ken Loach („The Wind that Shakes the Barley") oder zuletzt Steve McQueen („Hunger") haben sich – oft auf faszinierende Art und Weise - mit dem Reizthema auseinandergesetzt. Eigentlich ist alles gesagt, könnte man meinen. Deshalb sucht sich der oscarprämierte Dokumentarfilmer James Marsh („Man on Wire") für sein IRA-Drama „Shadow Dancer" auch eine ungewöhnliche Perspektive. Mit seiner Geschichte einer Attentäterin in den Fängen des britischen Geheimdienstes MI5 gelingt ihm ein unspektakulärer, spröder und doch sehr präziser Film und gewinnt der Thematik tatsächlich eine kleine neue Facette ab.

    Belfast, 1973. Die Familie McVeigh ist bis ins Mark erschüttert, als ihr Sohn von britischen Sicherheitskräften unter ungeklärten Umständen erschossen wird. Die Verbitterung über den gewaltsamen Tod des unschuldigen kleinen Jungens treibt die McVeighs auch noch zwei Jahrzehnte später um. Die beiden Brüder Gerry (Aidan Gillen) und Connor (Domhnall Gleeson) haben sich dem bewaffneten Kampf der IRA gegen die Briten angeschlossen und sind zu hochrangigen Offizieren aufgestiegen, und auch ihre Schwester Collette (Andrea Riseborough) ist aktiv dabei. Sie hatte ihren dritten Bruder damals losgeschickt, um Süßigkeiten zu holen, bevor er getötet wurde, diese Schuld nagt Jahre später immer noch an ihr. 1993 wird sie in London vom britischen Geheimdienst MI5 festgenommen, als sie in der U-Bahn der englischen Metropole eine Bombe platziert, die nur durch das schnelle Eingriffen der Beamten keinen Schaden anrichtet. Geheimdienstagent Mac (Clive Owen) bietet Collette einen Handel an. Spioniert sie ihre Mitstreiter im Umfeld aus, erspart sie sich 25 Jahre Gefängnis, erhält die Freiheit zurück und darf ihren kleinen Sohn wiedersehen. Derart unter Druck gesetzt, willigt Collette ein. Regelmäßig soll sie Mac mit Informationen versorgen. Doch zurück in Belfast verpasst Collette schon das erste Treffen. Wenig später stürmt die Polizei das Haus der McVeighs und nimmt die Endzwanzigerin erneut fest...

    James Marshs IRA-Drama lief bei der 62. Berlinale im Wettbewerb, allerdings außer Konkurrenz, weil „Shadow Dancer" bereits einen Monat zuvor beim Filmfestival in Sundance seine Premiere feierte. Dabei hätte der Film den Konkurrenz-Wettbewerb durchaus bereichert. Regisseur Marsh beweist bei seiner Verfilmung des Romans von Tom Bradby, der auch das Drehbuch beisteuerte, einen beachtlichen Stilwillen. Sein „Shadow Dancer" ist die Tristesse in Bildern - grau wie das Leben der Familie McVeigh, das nach der Tragödie um den Verlust des Filius mit Schmerz gebrandmarkt ist: Man hat das Gefühl, im gesamten Film scheine nicht in einziges Mal die Sonne. Collette trägt diese permanente Traurigkeit auch Jahrzehnte nach dem Tod des kleinen Bruders in ihren Augen, wenn sie mit der Selbstverständlichkeit eines Gangs zur Arbeit eine Bombe in der Londoner U-Bahn deponiert. Hier liegt eine der Stärken von Marshs Film. Er zeigt, wie sehr sich das Handeln der IRA-Kämpfer verselbstständigt hat und wie sehr die ursprünglichen Motive für die Aktionen in den Hintergrund geraten und verschwimmen. Natürlich gibt es das Trauma des getöteten Sohnes und Bruders, aber letztlich wird nicht mehr gefragt, warum gekämpft wird, sondern einfach immer weitergemacht – ganz alttestamentarisch: Auge um Auge, Zahn um Zahn.

    „Shadow Dancer" lebt vor allem von der inneren Spannung. Während ihre Brüder Gerry und Connor klar positioniert sind, wird Collette, die sich auf den ersten Blick in ihr Schicksal zu fügen scheint, von ihren inneren Kämpfen geradezu zerrissen. Um das eigene Überleben und die eigene Freiheit zu sichern, sieht sie sich gezwungen, ihre Familie und ihre Kampfgenossen zu verraten. Sie sucht verzweifelt nach einem Ausweg aus der Misere, den es aber nicht geben kann. Diesen emotionalen Drahtseilakt inszeniert Marsh bewusst zurückhaltend und kühl bis ans Herz. Andrea Riseborough („W.E.", „Brighton Rock") überzeugt als Täterin und Opfer zugleich, legt die Traurigkeit ihrer Figur offen und bringt uns Collettes Dilemma nahe. Die Gefühle brodeln in der jungen Frau, kommen aber nie zum Ausbruch, weil sie lange schon gelernt hat, sich effektiv selbst unter Kontrolle zu halten. Clive Owen („Hautnah", „Inside Man") erweist sich als würdiger Gegenpart. Sein Agent Mac gerät ähnlich wie Collette innerhalb der IRA beim MI5 selbst zwischen alle Fronten, weil seine Aktion zum Alleingang ausartet. Owen zeigt mehr Regungen als Riseborough und setzt somit in einem unterkühlten Film einen emotionalen Farbtupfer. Den beiden Schauspielern gelingt es zudem fast unterschwellig, die allmählich entstehende ganz besondere Verbindung zwischen Mac und Collette zu etablieren. Ein Wiedersehen gibt es auch mit „Akte X"-Ikone Gillian Anderson, die als Macs Vorgesetzte eine kleine, aber wichtige Rolle spielt, wenn es um das Schicksal Collettes geht.

    Außer der unkonventionellen Perspektive einer IRA-Geschichte aus der Sicht einer jungen Mutter und Terroristin bietet „Shadow Dancer" nicht wirklich viel Neues. Der Zuschauer muss auch Vorkenntnisse zum Thema mitbringen, weil die Grundlagen des Konflikts als bekannt vorausgesetzt werden. Aber ein Ass hat Regisseur James Marsh („Yorkshire Killer 1980") noch im Ärmel, mit dem er den so emotionsreduzierten Film ein einziges Mal heftig in Wallung bringt: Mit einem krachendem Schlusstwist lässt er Großteile der Handlung in neuem Licht erscheinen und gibt seinem Film eine zusätzliche Dimension.

    Fazit: James Marshs „Shadow Dancer" ist ein sehenswertes, im positiven Sinne unspektakulär in Szene gesetztes IRA-Drama. Ohne der Thematik viel Neues hinzuzufügen, findet er immer überzeugend und äußerst stilsicher eine spannende eigene Perspektive.

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