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    Die verlorene Zeit
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    2,0
    lau
    Die verlorene Zeit
    Von Robert Cherkowski

    Wir mögen mit der Vergangenheit abgeschlossen haben, doch die Vergangenheit wird nie mit uns abschließen. Egal wie sehr wir uns auch in Alltag, Routine und Ablenkung stürzen – immer wieder brechen Erinnerungen in unsere Gegenwart ein, auch wenn wir das gar nicht wollen. Ein jeder kennt die kurzen – scheinbar aus dem Nichts kommenden – Flashbacks und Déjà vus, die Verdrängtes wieder ins Bewusstsein schießen lassen. Was bei banalen kleinen Erinnerungen stattfindet, trifft natürlich auch bei großen Traumata und Tragödien zu. In Anna Justices Historiendrama „Die verlorene Zeit" ist es das Jahrhundertverbrechen Holocaust, das durch die Macht der Erinnerung Unordnung ins scheinbar geordnete Leben der Protagonistin bringt.

    Die jüdische Holocaust-Überlebende Hannah Silberstein (Dagmar Manzel) führt ein beschauliches Leben in der New Yorker Upper-Class der 70er Jahre. Dann sieht sie eines Tages ein Fernsehinterinterview mit Tomasz Limanowski (Lech Mackiewicz) und wird von der Erinnerung an ihre gemeinsame Vergangenheit mit dem Polen gepackt: Als Hannah (in Rückblenden: Alice Dwyer) in einem polnischen Konzentrationslager interniert war, gehörte auch der Widerstandskämpfer Tomasz (in Rückblenden: Mateusz Damiecki) zu den Gefangenen. Unter grausamen Bedingungen kamen sich beide einst näher und lernten einander zu lieben. Mit List und Tücke (und reichlich Glück) gelingt dem Paar die Flucht aus dem Lager. Es beginnt eine zermürbende Odyssee durch das polnische Hinterland von einem Unterschlupf zum nächsten. Immer wieder kommt Hannah bei Tomasz‘ Familie unter. Ausgerechnet seine Mutter Stefanie (Susanne Lothar) jedoch steht der Liebe der beiden im Wege und würde sogar Hannahs Tod durch die Hände der Nazis gutheißen...

    „Die verlorene Zeit" ist eine der 2011 reich vertretenen Produktionen, die sich mit den Gräueln des Zweiten Weltkriegs und mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzen: Egal ob „4 Tage im Mai", „Wunderkinder", „Das Blaue vom Himmel" oder „Mein bester Feind" – das Bedürfnis, sich jener Epoche der deutschen Geschichte zu widmen, ist bei den Filmemachern nach wie vor stark ausgeprägt. Außerdem hat ein Regisseur, der sich mit dem Dritten Reich befasst, in aller Regel nicht nur gute Chancen auf Förder- und Fernsehgelder, sondern darf auch auf den Besuch zahlreicher Schulklassen hoffen. Das schwierige Thema Nationalsozialismus sichert Aufmerksamkeit und verschafft Respekt. Dabei wird oft genug übersehen, dass „gut gemeint" nicht selten das Gegenteil von „gut gemacht" ist. Auch Anna Justice wird von einigen alleine für die gute Absicht Lob erhalten, dabei ist „Die verlorene Zeit" in großen Teilen missraten.

    Gerade als Auseinandersetzung mit der historischen Katastrophe ist der Film enttäuschend: Der Krieg und seine Auswirkungen wirken fast wie eine abstrakte „Naturkatastrophe", die über die Helden gekommen ist. Mit Ursachen und Zusammenhängen halten sich die Filmemacher nicht groß auf, auch Tomasz' Weg in den Widerstand ist kein Thema. Nachdem zu Beginn ein paar Szenen im KZ spielen und die Klischee-Nazis vom Dienst die üblichen hasserfüllten Grimassen schneiden, wird das Historiendrama bald nach der Flucht zu einem Wald-und-Wiesen-Road-Movie. Dabei lässt die komplizierte Erzählstruktur mit ihren ständigen Zeitsprüngen, Vor- und Rückblenden, bei der zudem klar ist, dass die beiden Protagonisten überleben, kaum Spannung aufkommen. Zudem fehlt Justice die inszenatorische Finesse, um dennoch Suspense zu erzeugen. Speziell eine langgezogene Szene, in der Florian Lukas („Good Bye, Lenin!") in einem Gastauftritt als Nazi-Scherge das Haus von Tomasz' Mutter inspiziert und diese sichtbar mit dem Gedanken spielt, die versteckt gehaltene Hannah ans Messer zu liefern, ist ein Musterbeispiel für diese selbstverschuldete Spannungslosigkeit.

    Leider fehlt Justices Film nicht nur die äußere Spannung, auch die Beziehungen zwischen den Figuren bleiben trotz der dramatischen Umstände kraftlos. Zwischen dem Liebespaar Alice Dwyer („Was du nicht siehst") und Mateusz Damiecki fehlt es an der vielbeschworenen Chemie, und auch der Konflikt zwischen Mutter und Sohn ist schematisch und bleibt reine Behauptung: Während Mutter Stefanie dafür ist, sich mit dem Regime so gut es geht zu arrangieren, schlägt in Tomasz' junger Brust ein idealistisches Kämpferherz. Der Gegensatz wird immer wieder in überdeutliche Dialogzeilen gepackt und auch darstellerisch werden ihm keine Nuancen abgewonnen, vielmehr kultiviert Susanne Lothar („Funny Games", „Das weiße Band") als verhärmte Mutter vom Lande den immer gleichen trüben Gesichtsausdruck. So bleibt nur das Klischee eines existenziellen Konflikts übrig, niemals ist emotionale Dringlichkeit zu spüren. Ähnlich papieren und geschwätzig ist auch die in den 70er Jahren angesiedelte Rahmenhandlung geraten, in der sich Dagmar Manzel („Crazy", „John Rabe") als ältere Hannah recht wacker schlägt, obwohl sie meist nur die Stirn in Falten legen muss, um zu signalisieren, dass die Erinnerungen sie übermannen.

    Fazit: „Die verlorene Zeit" handelt von Erinnerungen, die einen nicht los lassen und ein Leben lang begleiten. Ähnliche Nachhaltigkeit ist von diesem hölzernen, unnötig kompliziert erzählten und weitgehend spannungslosen Historiendrama kaum zu erwarten.

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