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    Mord im Orient-Express
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Mord im Orient-Express
    Von Andreas Staben

    Nur mit Albert Finneys Schnurrbart war Krimilegende Agatha Christie nicht zufrieden, als sie Sidney Lumets 1974er Adaption ihres berühmtesten Buches „Mord im Orient-Express“ sah: Hercule Poirot müsse den prächtigsten moustache in ganz England haben und nicht so ein bescheidenes Bärtchen wie in dem sechsfach oscarnominierten Klassiker. Sonst hatte aber auch die Autorin nichts auszusetzen an Finneys Leinwandporträt ihrer neben Miss Marple bekanntesten Figur und wenn nun Kenneth Branagh in der Rolle des belgischen Meisterdetektivs stolz ein wahres Prachtstück von einem Schnurrbart in die Kamera reckt, dann ist das so etwas wie eine augenzwinkernde Rechtfertigung der Neuverfilmung des Romans, dessen clevere Auflösung die meisten Krimifans sowieso schon kennen. Aber Branagh, der „Mord im Orient-Express“ auch inszeniert hat, hat noch anderes zu bieten: Neben einem klassisch anmutenden Luxus-Look (der in einigen ausgewählten Kinos auch im 65-mm-Format zu bewundern ist) und einem erstaunlichen Staraufgebot von Johnny Depp bis Daisy Ridley besticht das Kriminaldrama vor allem durch seine pointierte Poirot-Interpretation. Der Shakespeare-Mime Branagh setzt den bekannten Kino-Darstellungen von Finney und Peter Ustinov („Tod auf dem Nil“) sowie dem gefeierten TV-Poirot David Suchet eine eigene Sicht auf den Detektiv entgegen, die für die ansonsten recht rudimentäre Figurenzeichnung und den nicht ganz überzeugend umgesetzten Kriminalfall zumindest zum Teil entschädigt.

    1934. Nachdem er in Jerusalem einen Streit zwischen den Vertretern dreier Weltreligionen beigelegt hat, wird Detektiv Hercule Poirot (Kenneth Branagh) nach London zu einem neuen Fall gerufen. In Istanbul verschafft ihm sein Freund Bouc (Tom Bateman), der für die Eisenbahngesellschaft arbeitet, ein Abteil im eigentlich vollbesetzten Orient-Express nach Calais. An Bord trifft der Belgier auf eine internationale Riege Mitreisender: den Geschäftsmann Edward Ratchett (Johnny Depp) mit seinem Assistenten Hector MacQueen (Josh Gad) und seinem Butler Masterman (Derek Jacobi), die Prinzessin Dragomiroff (Judi Dench) mit ihrer Zofe Hildegard Schmidt (Olivia Colman), die Witwe Caroline Hubbard (Michelle Pfeiffer), Professor Gerhard Hartmann (Willem Dafoe), die Missionarin Pilar Estravados (Penélope Cruz), den Arzt Dr. Arbuthnot (Leslie Odom Jr.), den Autohändler Marquez (Manuel Garcia-Rulfo), die Gouvernante Mary Debenham (Daisy Ridley) sowie den Grafen Andrenyi (Sergei Polunin) und seine Frau (Lucy Boynton). Doch dann stoppt eine Schneelawine den Zug auf freier Strecke irgendwo im Balkan und am nächsten Tag ist einer der Passagiere tot - erstochen. Hercule Poirot nimmt die Ermittlungen auf…

    Regisseur Kenneth Branagh und Drehbuchautor Michael Green („Blade Runner 2049“) beginnen ihren Film mit einer neu erfundenen Episode in Jerusalem, die es ihnen erlaubt, die Hauptfigur und einige ihrer wesentlichen Charakterzüge in konzentrierter Form vorzustellen. Ihr Hercule Poirot ist ein kauziger Pedant, aber hinter seiner Suche nach zwei exakt gleich großen Vier-Minuten-Frühstückseiern lässt sich bald schon ein tiefsitzendes Bedürfnis nach Halt und Ordnung erahnen, das weit über solche Äußerlichkeiten hinausgeht. Das flamboyante Genie ist Branagh wie auf den Leib geschneidert und wenn Poirot verkündet, er sei der „wahrscheinlich größte Detektiv der Welt“ dann ist das in seiner Darstellung eine simple Feststellung voller eitler Selbstgewissheit, wie er sie auch schon in „Mary Shelley's Frankenstein“ oder in „Harry Potter und die Kammer des Schreckens“ an den Tag gelegt hat. An anderer Stelle dagegen zeigt das bereits in fünf verschiedenen Kategorien für den Oscar nominierte Multitalent uns Poirot als tiefmoralischen Grübler und wenn der Belgier das Foto seiner verflossenen Liebe betrachtend über Gut und Böse sinniert, dann hat das durchaus etwas von „Hamlet“ oder „Henry V.“.

    Wie der auf Schwarzweißdenkmustern beharrende Protagonist sich zunehmend in den Grauzonen der menschlichen Natur verirrt, das ist das Spannendste an „Mord im Orient-Express“. Der vertrackte Mordfall mit seinen widersprüchlichen Indizien und den undurchsichtigen Verdächtigen ist in dieser Version allerdings nicht allzu aufregend. Das gilt selbst dann, wenn man die Vorlage nicht kennt, an die sich die Macher nach dem Prolog recht eng halten. Allerdings werden die erzählerischen Fäden teilweise nur recht notdürftig verknüpft, auch wenn der reinen Logik weitgehend Genüge getan wird. Und Branaghs Film ist eben auch stärker als psychologisches Drama angelegt und nicht bloß als kriminalistisches Rätselraten und in diesem Drama bleiben die seelischen Nöte der verdächtigen Passagiere zu großen Teilen unbehandelt. Am ehesten dürfen noch Michelle Pfeiffer („mother!“) als anstrengende Witwe und Josh Gad („Die Schöne und das Biest“) als überforderter junger Sekretär in jene Untiefen vorstoßen, die aus bloßen Figuren echte Menschen werden lassen. Dazu kommen ein beeindruckender Auftritt von Willem Dafoe („Antichrist“) mit deutschem Akzent, eine überzeugend eigenwillige Darbietung von Johnny Depp („Fluch der Karibik“) und eine gelungene Aktualisierung des Stoffes durch die Besetzung des Arbuthnot (aus dem Major wird ein Arzt) mit dem schwarzen Schauspieler und Sänger Leslie Odom Jr. aus dem Broadway-Hit „Hamilton“.

    Was die übrigen Darsteller angeht, so rücken sie gegenüber dem Zug (die Gelegenheit zu einigen imposanten Fahrtaufnahmen lässt sich Branagh nicht nehmen), dessen luxuriöser Einrichtung und den tollen historischen Kostümen von Alexandra Byrne (Oscar für „Elizabeth – Das goldene Königreich“) ins zweite Glied. Die Schauwerte sind wie schon in Branaghs vorigem Film „Cinderella“ beachtlich und erinnern trotz der digitalen Bilder an das große klassische Hollywood-Kino, dazu kommen einige clevere visuelle Ideen wie die von oben gefilmte Entdeckung des Mordopfers. Eine kleine ins Drehbuch geschmuggelte Actionszene fügt der Story indessen nichts hinzu, hat aber immerhin Komponist Patrick Doyle („Merida“) zu einem der bewegtesten Stücke seiner ebenso klassischen wie abwechslungsreichen Filmmusik inspiriert. Dass Branagh die finalen mit Flashbacks gespickten Enthüllungen vom Speisewagen in einen Tunnel verlegt und dabei da Vincis „Abendmahl“ nachstellt, ist wiederum eine durchaus faszinierende Idee, aus der aber letztlich nur wenig gemacht wird. So ist dieser neue „Mord im Orient-Express“ eine zwar ziemlich kurzweilige, aber auch durchwachsene Angelegenheit.

    Fazit: Kenneth Branaghs Neuverfilmung von Agathe Christies berühmtem Krimi überzeugt in der Darstellung des Hercule Poirot, hat aber auch deutliche erzählerische Schwächen.

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