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    Annette
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Annette

    Ein Publikumsspalter, wie er im Buche steht

    Von Michael Meyns

    Das bekommt so wohl nur ein Franzose hin: Ein depressives Musical über Liebe und Tod, in dem eine singende Puppe die Titelrolle spielt. Zum Auftakt der 74. Filmfestspiele von Cannes spaltete der heiß erwartete, wegen der Pandemie um ein Jahr verschobene „Annette“ von Leos Carax die Gemüter. Der französische Regieprovokant dreht hier mit Adam Driver („Marriage Story“) und Marion Cotillard („La Vie En Rose“) zwar zum ersten Mal in Englischer Sprache …

    … aber gesprochen wird in „Annette“ ohnehin nur wenig, stattdessen wird fast jedes Wort gesungen – und zwar nach Texten der legendären Avantgarde-Rockband Sparks. Dabei geht es um Liebe bzw. eher die etwas extremere französische Variante der Amour Fou - dazu kommen Erfolg, Macht, Boulevardmedien, #metoo und noch viel mehr. Herausgekommen ist ein sehr seltsamer, irgendwie auch verstörender Film, bei dem such am Ende auch die Frage aufdrängt, wie viel Autobiographisches Leos Carax in sein Musical mit hineingetragen hat.

    Nur echt mit Motorradhelm: Adam Driver spielt den typischen Leos-Carax-"Helden".

    Henry (Adam Driver) ist ein erfolgreicher Stand-Up-Comedian, der sein Publikum mit schockierenden, oft misogynen Einlagen unterhält und so dafür sorgt, dass ihnen das Lachen im Halse stecken bleibt. Seine große Liebe ist Ann (Marion Cotillard), eine ähnlich erfolgreiche Opernsängerin. Bald bringt ihre Liebe ein Kind hervor: Annette. Doch in Henry brodeln Dämonen, er hasst sich selbst, seinen Erfolg und bald auch seine Frau. #metoo-Vorwürfe kommen auf, die vielleicht nur in Anns Fantasie existieren. Das Paar macht eine Bootsfahrt auf stürmischer See, Ann stirbt und Henry ist allein mit Annette – und die beginnt plötzlich zu singen…

    Die Karriere des verschrobenen Arthouse-Stars Leos Carax erinnert ein wenig an die von Stanley Kubrick – nur wenige Filme, oft mit jahrelanger Pause, aber dann kommt auch immer etwas Besonderes dabei heraus: Carax debütierte 1984 mit „Boy Meets Girl“ – und hat seitdem gerade einmal fünf weitere Filme realisiert, darunter jedoch Klassiker wie „Die Liebenden von Pont-Neuf“ und „Holy Motors“. Letzterer lief 2012 in Cannes und seitdem wurde auf den Nachfolger gewartet, der schließlich als internationale Co-Produktion in Los Angeles entstand und all das hat, was Carax-Filme ausmachen: Liebe, Tod, Selbstzweifel, Wahnsinn. Und Musik als bis zum Anschlag aufgedrehter Verstärker der nicht immer rationalen Emotionen.

    Die vierte Wand wird direkt eingerissen

    So may we start?“, fragt Leos Carax in der allerersten Szene selbst, während er im Tonstudio sitzt und als Dirigent des nun Folgenden loslegen will. Mit ihm im Studio sitzen auch Ron und Russell Mael, die beiden Brüder, die zusammen das Art-Rock-Duo Sparks bilden. Sie und ihre Band beginnen zu spielen, sie stehen auf und bewegen sich aus dem Studio raus auf die Straßen von Los Angeles. Bald gesellen sich Adam Driver und Marion Cotillard zu ihnen, singen mit, trennen sich dann, sie fährt in einer Limousine davon, er – typischer einsam-grübelnder Carax-Held – auf einem Motorrad.

    Ein junges Mädchen ist auch zu sehen. Sie saß im Studio und kam dann zu Carax, als der Gesang und damit der Film begann. Sie wird zwar später nicht mehr auftauchen, könnte aber doch der Schlüssel zum Verständnis von „Annette“ sein, denn ihr ist der Film gewidmet: „Für Nastya.“ Nastya Golubeva Carax ist die 16-jährige Tochter von Leos Carax und Yekaterina Golubeva, einer russischen Schauspielerin, die 1999 in Carax‘ „Pola X“ eine wichtige Rolle gespielt hat. Wie aus dem Nichts tauchte sie dort aus dem Wald auf und brachte das Leben der Hauptfigur Pierre (eine motorradfahrenden Künstlerfigur und klares Alter Ego des Regisseurs) durcheinander. In „Pola X“ kam die von Golubewa gespielte Figur schließlich auf tragische Weise ums Leben. In der Realität starb die Schauspielerin 2011 mit nur 44 Jahren. Die Gründe sind unklar, manche sprechen von Selbstmord.

    Ganz sicher kein Wohlfühl-Musical: In "Annette" geht's schnurstracks in den Abgrund.

    Nun also „Annette“, ein Film über einen Künstler, der für seine Extreme bekannt ist, der liebt bis zum Wahnsinn, aber auch schrecklich eifersüchtig ist, der ein Kind hat, das schon als Puppe zur Welt kommt, wie eine Marionette durch das Leben torkelt, mal aus einem Horrorfilm, mal aus einer düsteren Satire über den modernen Medienzirkus zu stammen scheint. Nach Anns Tod nimmt sie den Platz ihrer verstorbenen Mutter ein, wird selbst ein Star. Zusammen mit ihrem Vater bereist sie die Welt, aber die Fäden behält immer er fest in der Hand. Erst ganz am Ende erwacht Annette zum Leben, wird auf einmal von einem realen Kind gespielt. In einem wahrhaft furiosen Duett hält sie Henry vor, was er mit ihr gemacht hat und sagt ihm voraus, dass er fortan nie mehr Lieben wird.

    In gewisser Weise hat Leos Carax immer schon Filme über sich selbst gedreht, über unbändige Liebe, über Künstler, über bedingungslose Aufopferung. Spätestens mit „Holy Motors“ gerieten Carax’ Filme dann komplett selbstreflexiv, sie zitieren sein eigenes Werk ebenso wie die Filmgeschichte und wurden immer mehr zu enigmatischen, surreal angehauchten Bilderrätseln, die während des Sehens von einzelnen, mehr oder weniger umwerfenden Momenten lebten und erst nach dem Ende des Films schier unendliche Gedankengänge evozierten. So ähnlich will auch „Annette“ funktionieren, doch die Bilder sind diesmal nicht so überwältigend, die umwerfenden Momente rarer gesät.

    Harte Kost

    Vor allem Adam Driver bleibt trotzdem in Erinnerung. Mit enormer Ernsthaftigkeit spielt er den sich selbst verachtenden Künstler, der provoziert, auch mal um des Provozieren willen, der lieben will, aber es nicht kann und deshalb sich und sein Umfeld zerstört. In seiner Schonungslosigkeit ist das überaus beeindruckend, in seinem radikalen Verzicht auf eine sympathische, empathische Hauptfigur aber ganz sicher keine leichte Kost, erst recht nicht für ein Musical.

    Ganz ohne Frage ist „Annette“ aber das Werk eines wahren Auteurs, der sich nicht um die Meinungen anderer schert und als solches natürlich perfekt für Cannes geeignet ist. Und wie autobiographisch das Ganze nun wirklich gedacht ist, darüber lässt sich dann nach dem Kino noch reichlich spekulieren.

    Fazit: Ein konventionelles Musical war von Leos Carax nun wirklich nicht zu erwarten – und zumindest diese Erwartung erfüllt das französische Enfant Terrible, wenn er mit „Annette“ einen enigmatischen, verstörenden, faszinierenden Exzess um die Liebe und den Tod abliefert, zu 100 Prozent.

    Wir gaben „Annette“ auf dem Cannes Filmfestival gesehen, wo er als Eröffnungsfilm gezeigt wurde.

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