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    The Northman
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    The Northman

    Die Wikinger, wie man sie noch nie gesehen hat

    Von Christoph Petersen

    Als wir den 38-jährigen Regie-Shootingstar Robert Eggers („Der Leuchtturm“) im Interview in einem Hotel an der Hamburger Alster fragen, ob er denn manchmal auch Abstriche bei der historischen Authentizität in Kauf nehmen würde, um sich die Arbeit am Set leichter zu machen, antwortet er uns, dass das schon mal vorkäme. Als Beispiel nennt er die Hütten in seinem gefeierten Debüt „The Witch“ – die Fenster im puritanischen Neuengland seien in Wahrheit einige Zentimeter kleiner gewesen, aber dann wäre nicht genug Licht zum Filmen in die Räume gefallen. Man spürt, dass ihn diese Mini-Abweichung auch sieben Jahre später immer noch maßlos wurmt – und da ist es auch ganz egal, ob es neben ihm auch nur einer einzigen Person auf diesem Planeten aufgefallen wäre oder nicht.

    Im Vorfeld des Wikinger-Racheepos „The Northman“, das ursprünglich mit einem kolportierten Budget von 65 Millionen Dollar ausgestattet wurde, wobei die Kosten aufgrund von Corona-Schutzmaßnahmen anschließend sogar noch einmal um circa 30 Millionen Dollar angewachsen sind, stellte sich natürlich trotzdem die Frage, ob der bisherige Indie-Favorit seine unbedingte Kompromisslosigkeit auch in Hollywoods durchkalkuliertem Studiosystem beibehalten kann? Die Antwort lautet: Er hat es einfach getan! Robert Eggers wurde auch deshalb so viel Geld zur Verfügung gestellt, weil die Marketingabteilung auf die Erfolge anderer aktueller Wikinger-Stoffe geschielt hat. Aber wer nur „Vikings“ schaut und „Assassins Creed: Valhalla“ spielt, der wird kaum vorbereitet sein auf das, was ihn bei „The Northman“ erwartet…

    Amleth hat schon als Junge geschworen, seinen Vater zu rächen, seine Mutter Gudrún zu retten und seinen Onkel zu töten…

    „The Northman“ basiert auf jener Wikinger-Saga, die später einmal als Vorlage für William Shakespeares „Hamlet“ diente – deshalb auch die Ähnlichkeit beim Namen des Protagonisten: Im Jahr 895 wird der Wikingerkönig Aurvandil (Ethan Hawke) von seinem selbst nach der Macht strebenden Bruder Fjölnir (Claes Bang) ermordet. Auch Aurvandils Sohn soll getötet werden – doch Amleth (als Kind: Oscar Novak) gelingt die Flucht. Allerdings schwört er, später einmal zurückzukehren, um seinen Vater zu rächen, seine gefangengenommene Mutter Gudrún (Nicole Kidman) zu befreien und seinen Onkel zu töten.

    Die Chance dazu bietet sich 30 Jahre später. Als Amleth (als Erwachsener: Alexander Skarsgård) mit einer Wikinger-Horde in Osteuropa herummarodiert, sollen einige der Gefangenen als Sklav*innen auf die Farm von Fjölnir, der sein Königreich inzwischen wieder verloren hat, nach Island verschifft werden. Amleth gibt sich selbst als Sklave aus, um mit der Hilfe der Seherin Olga (Anya Taylor-Joy) einen ebenso perfiden wie blutigen Racheplan zu verfolgen…

    Jedes kleine Detail

    Wir wissen viel weniger über die Wikinger, als die meisten glauben. Es gibt gar nicht mal so viele Funde – und die zeitgenössischen Berichte sind meist christlich geprägt und damit nur eingeschränkt belastbar. Trotzdem hat Robert Eggers alles getan, um einen höchstmöglichen Grad an Authentizität zu erreichen. Selbst für Boote, die man nur in weiter Ferne auf dem Meer sieht, hat er museumstaugliche Nachbauten verwendet – dabei hätte das Publikum es wahrscheinlich nicht mal gemerkt, wenn es ein grob zusammengezimmertes Pappmaschee-Modell gewesen wäre. Als Nicht-Wikingerexpert*in ist es natürlich praktisch unmöglich, diese Detailversessenheit wirklich zu erfassen – aber man spürt sie. „The Northman“ fühlt sich einfach ganz anders an als die Popkultur-Normannen aus „Vikings“ & Co.

    Dabei geht Robert Eggers, der das Drehbuch gemeinsam mit dem isländischen Poeten Sjón verfasst hat, aber noch einen entscheidenden Schritt weiter: Wie schon bei „The Witch“ geht es ihm auch in „The Northman“ nicht darum, ein aus heutiger Sicht akkurates historisches Bild zu zeichnen – vielmehr geht es darum zu reproduzieren, wie die Menschen damals ihre Welt selbst wahrgenommen haben: Im puritanischen Neuengland von „The Witch“ war es daher ganz normal, dass es Hexen gibt – und für Wikinger sind Walküren eben keine Sagengestalten, sondern ein ganz „natürlicher“ Teil ihrer Welt. In „The Northman“ prallen die historische und die mythologische Welt nicht aufeinander – sie sind vom ersten Moment an vollkommen miteinander verschmolzen.

    Bevor sie mit „Das Damengambit“ zum weltweiten Star wurde, gelang Anya Taylor-Joy mit Robert Eggers‘ Debüt „The Witch“ der Durchbruch.

    Das wird übrigens nicht großartig erklärt – und deshalb einen Teil des Publikums ebenso vor den Kopf stoßen wie der Umstand, dass Robert Eggers sich ebenso weigert, dem grausamen Geschehen mit einem heutigen Moralverständnis zu begegnen: Amleth ist relativ früh bei einem brutalen Überfall auf ein Dorf, vor dem sich die Wikinger in einen animalischen, wolfsartigen Zustand hochjazzen, beteiligt, bei dem Frauen und Kinder gnadenlos in einer Hütte eingepfercht und verbrannt werden – und trotzdem bleibt er der tragische Held der Geschichte. Aber selbst da endet die Konsequenz nicht …

    … denn Robert Eggers setzt trotz fehlender Großproduktions-Erfahrung nicht nur weiterhin auf seine vertrauten Mitarbeiter*innen wie Kameramann Jarin Blaschke oder seine Editorin Louise Ford, sondern auch auf seine strikte Art des Filmemachens, die mit der modernen Art, Blockbuster zu drehen, eigentlich so gar nicht zusammenpasst: Auch „The Northman“ ist wieder in langen Einstellungen ohne die Hilfe von Handkameras gedreht – wobei jeder Winkel schon vorab so minutiös in Storyboards durchgeplant wurde, dass er auf das gerade bei Action-Sequenzen übliche Abfilmen des Geschehens aus x verschiedenen Perspektiven verzichtet.

    Atemberaubender Wikinger-Überfall

    Das heißt, dass der Film am Ende genauso aussieht, wie es sich Robert Eggers vorab vorgestellt hat – es ist schließlich gar nicht möglich, im Schnittraum noch groß Sachen zu verändern, weil das Material schlicht nie gedreht wurde. Besonders beeindruckend ist das Ergebnis beim angesprochenen Überfall auf ein Dorf der Rus: In einer minutenlangen Sequenz metzelt sich der hochgepumpte Amleth durch die kleine Siedlung, während um ihn herum ebenfalls das pure blutige Chaos tobt. Solche Szenen kennt man eigentlich nur noch mit wackelnder Handkamera – aber die klare Einstellung von „The Northman“ erlaubt es einem, sich die Szene im Ganzen anzusehen.

    In jeder Ecke des Bildes passiert etwas – und obwohl so ein Moment natürlich eine immense Planung und umfangreiche Proben benötigt, wirkt der tödliche Tumult vollkommen real und gar nicht durchchoreographiert. In dieser Hinsicht ist der Trailer zum Film allerdings auch etwas irreführend: „The Northman“ steigert sich ab diesem Moment nicht immer weiter zum historischen Heeresepos mit immer größeren Schlachten – sondern wird im Gegenteil in der zweiten Hälfe wieder intimer. Es entspinnt sich ein mythologisch aufgeladener Serienkiller-Thriller aus der Perspektive des Mörders, der sich nebenbei noch in einer superbrutalen Quidditch-Variante bewährt und Oscargewinnerin Nicole Kidman in der wahrscheinlich besten und eindringlichsten Monolog-Szene ihrer Karriere gegenübertritt…

    Fazit: Ein rohes, blutgetränktes, bildgewaltiges Wikinger-Epos, wie ihr es garantiert noch nie gesehen habt. „The Northman“ wird mit seiner widerborstigen Konsequenz das Publikum radikal spalten – aber etwas anderes hätte von Robert Eggers nach „The Witch“ und „Der Leuchtturm“ wohl auch niemand erwartet, ganz egal, wie viele Millionen ihm ein Studio zur Verwirklichung seiner singulären Vision auch zur Verfügung stellen mag.

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