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    Wir sind dann wohl die Angehörigen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Wir sind dann wohl die Angehörigen

    Einer der spektakulärsten deutschen Kriminalfälle - mal aus anderer Perspektive

    Von Michael Meyns

    Im Frühjahr 1996 ereignete sich einer der spektakulärsten Kriminalfälle der jüngeren deutschen Geschichte: In Hamburg wurde der Millionenerbe Jan Philipp Reemtsma entführt und erst nach 33 Tagen gegen die Zahlung von 30 Millionen Mark wieder freigelassen. Reemtsma selbst schrieb wenig später ein Buch über seine Erfahrung. Aber wie gingen in der schwierigen Zeit eigentlich seine Angehörigen, also seine Frau und der gemeinsame Sohn mit der Situation um? Diese Lücke füllte 2018 schließlich Reemtsmas Sohn Johann Scheerer mit seinem Buch „Wir sind dann wohl die Angehörigen“, das „23“-Regisseur Hans-Christian Schmid nun auch als Vorlage für seinen gleichnamigen Film genommen hat. Wie so oft zeigt sich Schmid dabei als sensibler Beobachter jugendlicher Befindlichkeiten, erweitert die Buchvorlage aber zugleich auch um eine subtile Betrachtung vom Aufeinanderprallen großbürgerlicher Arroganz und den (Eigen-)Interessen der Polizei.

    Am Abend des 25. März 1996 wird der in Hamburg lebende Jan Philipp Reemtsma (Philipp Hauß), Erbe einer Maschinenbau-Dynastie, entführt. 20 Millionen Mark Lösegeld verlangen die Täter zunächst. Nach zwei gescheiterten Geldübergaben erhöhen sie die Summe auf 30 Millionen Mark. 33 Tage dauerte die Entführung schließlich, die am Ende durch eine von Reemtsmas Frau Ann Kathrin Scheerer (Adina Vetter) selbst arrangierten Übergabe des Lösegeld endete. Die Polizei verbucht den Einsatz zwar als Erfolg für sich, aber Fragen über ein mögliches Versagen der Einsatzkräfte und damit eine Gefährdung der Geisel werden trotzdem schnell laut…

    Für den 13-jährigen Johann Scheerer ist es ein ambivalentes Gefühl, dass sein Vater plötzlich nicht mehr da ist.

    Als sein Vater entführt wurde, war Johann Scheerer 13 Jahre alt, stand also am Beginn der Pubertät. Bei diesem speziellen Vater-Sohn-Gespann wurde der Abnabelungsprozess noch dadurch verstärkt, dass der Vater ein bekannter Millionär und Intellektueller war, der Mitte der Neunziger durch die von seinem Institut initiierte Wehrmachtsausstellung deutschlandweit bekannt wurde. Wie gespannt das Verhältnis von Vater und Sohn gewesen sein muss, deutet Hans-Christian Schmid gleich zu Beginn an. Latein soll gelernt werden, eine tote Sprache, die der bildungsbürgerliche Vater als selbstverständlich ansieht, der Sohn dagegen allerdings für sinnlos hält. Im Streit gehen sie an diesem Abend auseinander – und werden sich vielleicht nie wiedersehen.

    Wie soll sich Johann (Claude Heinrich) nun verhalten, wenn er erfährt, dass der Vater, der ihm am Abend zuvor noch auf die Nerven ging, entführt wurde? Mehr als 20 Jahre nach der Entführung schrieb Johann Scherer, der inzwischen als Musiker und Musikproduzent erfolgreich ist und mit Künstlern wie Faust, Pete Doherty oder 1000 Robota gearbeitet hat, seine Sicht der Dinge auf. Sicher auch der Versuch, ein Stück Deutungshoheit zurückzugewinnen, war in der Folge der Entführung doch fast ausschließlich über das Leid von Jan-Philipp Reemtsma geschrieben worden. Später dann auch viel über den Entführer Thomas Drach, während die Angehörigen kaum mehr als nebenbei erwähnt wurden.

    Die Fallstricke gutbürgerlicher Arroganz

    In Hans-Christian Schmid hat Johann Scherer sicherlich den idealen Regisseur für eine Verfilmung seines Buches gefunden, schließlich hat dieser speziell mit Filmen wie „Nach fünf im Urwald“ oder „Crazy“ doch immer wieder ein besonderes Gespür für jugendliche Befindlichkeiten bewiesen. Aber im Vergleich zur Vorlage geht er in „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ über die sehr persönliche Perspektive von Johann Scherer hinaus und seziert wie schon in Filmen wie „Requiem“ oder „Was bleibt“ bürgerliche Familienstrukturen. Das Verhältnis der bürgerlich-intellektuellen Welt der Reemtsmas zur Polizei steht hier im Mittelpunkt. Besonders der Anwalt Johann Schwenn (Justus von Dohnányi) erweist sich hier als allzu überzeugt von seinen Fähigkeiten, nur um dann bei den Telefonaten mit den Entführern kläglich zu scheitern und so eigentlich gewollte Geldübergaben doch noch platzen zu lassen.

    Ein Aspekt, der in Krimis selten verhandelt wird, ist dabei besonders interessant – nämlich der Widerspruch zwischen den Interessen der Angehörigen und jenen der Polizei: Während die einen alles tun würden und wollen, um wie in diesem Fall einen entführten Angehörigen freizubekommen, muss der Polizei im Interesse der öffentlichen Sicherheit auch daran gelegen sein, den Tätern auf die Spur zu kommen, was wiederum das Leben der Geisel gefährden könnte. Ob dieser potenzielle Interessenkonflikt im Fall der Reemtsma-Entführung eine Rolle gespielt hat, darüber herrscht noch immer Unklarheit. Zwar gab es während der Entführung eine von allen Medien in Deutschland eingehaltene Nachrichtensperre, aber im Anschluss wurde ausführlich spekuliert, warum mehrere Geldübergaben scheiterten. Reemtsma selbst trug mit seinem Buch „Im Keller“ zur Diskussion bei, Hans-Christian Schmid enthält sich in „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ hingegen einer klaren Position.

    Der Anwalt Johann Schwenn (Justus von Dohnányi) hält sich stets für den Klügsten im Raum...

    Gerade im letzten Drittel wirkt sein erster Spielfilm seit zehn Jahren dadurch etwas unfokussiert, schwankt zwischen einem klassischen Polizeifilm, der sehr ausführlich die schließlich erfolgreiche Geldübergabe schildert, sowie dem ungewöhnlicheren Ansatz, die Perspektive der Angehörigen einzunehmen. Aber gerade wenn es dezidiert um Johann Scherer und sein gespanntes Verhältnis zu seinem in diesem Moment auf sehr spezielle Weise abwesenden Vater geht, gelingen Schmid eindringliche Momente. Mal sind es die Angehörigenbetreuer Vera (Yorck Dippe) und Nickel (Enno Trebs), mal Christian Schneider (Hans Löw), ein Freund der Familie, zu denen Johann Beziehungen entwickelt, die von viel mehr Wärme gekennzeichnet sind als jene zu seinem Vater. Doch der steht immer im Raum, auch wenn er nicht da ist, als überragende Gestalt, als intellektueller Maßstab, von dem sich der Sohn nur schwer abnabeln kann – ein Prozess, der womöglich tatsächlich erst mit einem eigenen Buch vollendet werden konnte.

    Fazit: Hans-Christian Schmid schildert die viel beschriebene Reemtsma-Entführung aus ungewöhnlicher Perspektive. Durch den Blick von Frau und Sohn wird das Leid der Angehörigen spürbar, aber auch das schwierige Verhältnis von bürgerlich-intellektuellem Selbstverständnis und dem Pragmatismus der Polizei.

    „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ war der Eröffnungsfilm vom Filmfest Hamburg 2022.

     

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