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    Ein ganzes Leben
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Ein ganzes Leben

    Mehr Berge wagen!

    Von Markus Tschiedert

    Als Robert Seethaler 2014 seinen Roman „Ein ganzes Leben“ veröffentlichte, hat er nicht unbedingt damit gerechnet, dass der Erfolg über die deutsch-österreichischen Landesgrenzen hinausgehen würde. Schließlich handelt es sich um ein raues Alpen-Drama, angesiedelt im 20. Jahrhundert, und erzählt wird die leidhafte Lebensgeschichte eines einfachen, trotz aller Rückschläge mit seiner Heimat verwurzelten Mannes – und das alles vor dem Hintergrund historischer Ereignisse, die schmerzlich waren und einen Wandel der Welt erforderten.

    Der Mensch, der sowohl der Natur als auch seinem Gemeinwesen ausgesetzt ist – ein universelles Thema, weshalb Seethalers Roman auch im Ausland so großen Anklang fand und in mehreren Sprachen übersetzt wurde. Eine Verfilmung war daher wohl nur eine Frage der Zeit. Nun ist sie da, eine deutsch-österreichische Koproduktion, die an 47 Drehtagen in Tirol und Bayern entstand. Regisseur Hans Steinbichler („Das Tagebuch der Anne Frank“) ist damit ein gewaltiges Epos gelungen, das nicht selten auch gewaltsam ist und uns allein schon mit der Fotografie einer kolossalen Bergkulisse sofort in den Bann zieht.

    Momente puren Glücks sind im Leben des Andreas Egger (Stefan Gorski) rar gesät.

    Nach dem Tod seiner Mutter landet Andreas Egger als kleiner Bub (Ivan Gustafik) beim Bauern Kranzstocker (Andreas Lust). Nur widerwillig nimmt dieser als nächster Angehörige den Waisenjungen bei sich auf, um ihn dann aber wie einen Aussätzigen mit permanenten Demütigungen und Schlägen zu misshandeln. Nur die alte Ahnl (Marianne Sägebrecht) umsorgt den Zögling und meint es gut mit ihm. Als sie stirbt, ist aus Andreas (Stefan Gorski) längst ein Mann geworden. Alt genug, seinem Peiniger die Stirn zu bieten und abzuhauen. Da er kräftig und stark ist, nimmt er jede Arbeit (u.a. beim ersten Seilbahnbau) an und kann für sein Erspartes schon bald eine abgelegene Berghütte erwerben.

    Als Andreas die Magd vom Dorfwirt (Robert Stadlober) erblickt, weiß er, was ihm noch fehlt. Marie (Julia Franz Richter) wird seine Frau und schon bald schwanger. Das kleine Glück ist jedoch nur von kurzer Dauer – und das nächste Unheil kündigt sich mit dem Zweiten Weltkrieg bereits an: Andreas wird Ende 1942 eingezogen und kehrt erst 1951 aus russischer Kriegsgefangenschaft in sein Dorf zurück. Seine letzten Jahre verbringt er (nun gespielt von August Zirner) als Einsiedler, bis ihm auffällt, dass er noch nie den Bus bis zur Endstation genommen hat. Was erwartet ihn dort jenseits seines Tals?

    Vom Kinde bis zum Greis

    Tatsächlich ein ganzes Leben umfasst der Film, chronologisch aufbereitet. Damit hält sich Drehbuchautor Ulrich Limmer („Schtonk!“) an den Erzählstil des Romans, der oftmals genau wegen dieser Geradlinigkeit gelobt wurde. Auch dem Film verleiht diese zeitliche Abhandlung eine unprätentiöse Note, weil dadurch stets die Perspektive des Protagonisten beibehalten wird. Trotzdem werden die Stationen im Leben von Andreas Egger nicht einfach nur stoisch abgehakt. Im Gegenteil, emotional wird man augenblicklich hineingezogen, wenn die Kamera über die Alpen gleitet und die Story damit verortet wird. Gleich darauf blickt man in die Augen eines unschuldigen Jungen. Es ist der kleine Andreas, der beim Bauern Kranzstocker abgegeben wird, von dem er nichts Gutes zu erwarten hat.

    Damit geht es sogleich ans Eingemachte. Man fühlt sich diesem Kind unmittelbar verbunden, spürt die gleiche Ungerechtigkeit, Wut und Ohnmacht, wenn es körperlich und seelisch gezüchtigt wird. Heftige Szenen folgen, wenn Kranzstocker etwa so lange mit einer Gerte auf den Knaben einschlägt, bis dieser mit gebrochenem Bein das Bewusstsein verliert. Was uns unerträglich erscheint, findet im Film aber keine übermäßige moralische Bewertung – wir befinden und in einer Zeit und an einem Ort, wo man viel erduldet, weil die Dinge nun mal so sind wie sie sind.

    Am Ende schaut Andreas Egger (jetzt: August Zirner) auf ein ganzes bewegtes, von den Bergen geprägtes Leben zurück…

    So blickt man vor allem in schweigende, verhärmte Gesichter. Übrigens hat die Maske dabei ganze Arbeit geleistet, solche auch noch durch Sonne, Wind und Kälte zerfurchte Gesichter zu gestalten, und sie dann auch noch überzeugend altern zu lassen. Beispielsweise ist Robert Stadlober kaum wiederzuerkennen und sieht am Schluss, obwohl erst 41, wie sein eigener Großvater aus. Manchmal also wirken die Menschen aus dem Tal genauso versteinert wie die Berge um sie herum, und bis Marie ihrem zukünftigen Gemahl überhaupt mal ein erstes Lächeln entlocken kann, vergeht fast eine Filmstunde.

    Andreas Egger ist da schon längst erwachsen und wird nun von Stefan Gorski („Contra“) verkörpert. Mehr als die Hälfte des Films trägt der österreichische Schauspieler die Hauptfigur in der Blüte ihres Lebens. Ein kraftvoller Mann, der Naturgewalten, Schicksalsschläge und Krieg erträgt, weil er es nie gelernt hat, den Lauf der Dinge in Frage zu stellen. Erst mit August Zirner („Was uns nicht umbringt“), der Andreas Egger ab dem 58. Lebensjahr spielt, findet ein Sinneswandel statt. Nun lernen wir ihn als bedächtigen älteren Herrn kennen, der sein Leben auf den Prüfstand stellt, weil er sich in der vom Fortschritt geprägten Nachkriegszeit nicht mehr zurechtfindet.

    Nicht einmal die Berge sind vor Veränderung sicher

    Der historische Kontext wird im Film nie vergessen, wird aber ebenso schicksalsgegebend ausgelegt wie Naturkatastrophen. Ist der Mensch also machtlos und muss sich den ständigen Umwälzungen beugen? Dadurch, dass vor unseren Augen in zwei Stunden fast ein ganzes Jahrhundert vorbeizieht, wird die Sinnfrage geweckt, werden eigene Parallelen zum Hier und Heute gezogen. Andreas Egger erlebt Kriege, technische Errungenschaften wie das elektrische Licht und den wirtschaftlichen Aufschwung, wenn im Tal der Tourismus Einzug nimmt (die hochgefährlichen Hangarbeiten für den Bau der ersten Seilbahn liefern die spektakulärsten Szenen des Films, sorgen aber auch für brutale, teils tödliche Verletzungen).

    Am Anfang bringt ihn ein Pferdewagen, am Ende nimmt er den Omnibus, um zu sehen, was es wohl noch außerhalb seines Dorfes gibt. Aber er kehrt in seine Heimat zurück. Gewiss lässt sich „Ein ganzes Leben“ mit früheren Bergfilmen vor dem Zweiten Weltkrieg und späteren Heimatfilmen danach vergleichen. Zwei Genres, die zur deutsch-österreichischen Geschichte gehören. Der Bergfilm der Dreißigerjahre versinnbildlichte das Streben nach Höherem, der Heimtafilm der Fünfzigerjahre diente als Ablenkung. Statt kriegszerstörte Städte wurde der Natur mit heilen Bildern von Wäldern und Gebirgen gehuldigt. Auch Hans Steinbichler spielt gekonnt mit solchen Elementen, rückt die Landschaften mal majestätisch, mal bedrohlich ins Bild, ohne sie dabei zu glorifizieren oder zu romantisieren. Die Berge scheinen einfach nur dazustehen, standfest und unzerstörbar. Ein trügerischer Eindruck, denn bereits im 20. Jahrhunderts baute der Mensch erst Seilbahnen und dann Ski-Pisten. Auch davon erzählt der Film so ganz nebenbei.

    Fazit: Diese Romanverfilmung bietet großes Kino – wuchtig, wahnsinnig und wahrhaftig. Eben alles, was ein ganzes Leben hervorbringen kann. Mit dem Ende des Heimatfilm-Hypes sind auch die Berge weitestgehend von den Leinwänden verschwunden – aber angesichts von Filmen wie „Ein ganzes Leben“ sollte man im deutschen Kino ruhig wieder mehr Berge wagen.

    PS: Um dem immer mal wieder vorgebrachten „Vorurteil vom lahmen deutschen Film“ etwas entgegenzusetzen, hat sich die FILMSTARTS-Redaktion dazu entschieden, die Initiative „Deutsches Kino ist (doch) geil!“ zu starten: Jeden Monat wählen wir einen deutschen Film aus, der uns besonders gut gefallen, inspiriert oder fasziniert hat, um den Kinostart – unabhängig von seiner Größe – redaktionell wie einen Blockbuster zu begleiten (also mit einer Mehrzahl von Artikeln, einer eigenen Podcast-Episode und so weiter). „Ein ganzes Leben“ ist unsere Wahl für den November 2023.

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