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    Vergiftete Wahrheit
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Vergiftete Wahrheit

    Ein Film, der jeden angeht

    Von Oliver Kube

    Die synthetisch hergestellte Perfluoroctansäure (kurz PFOA) weist eine so enorm hohe Stabilität und Widerstandsfähigkeit auf, dass sie praktisch unzerstörbar ist. Das ist eine tolle Eigenschaft, wenn man etwa Teflon für Bratpfannen mit Antihaft-Beschichtung herstellen will. Es ist zugleich jedoch auch ein großes Problem, wenn Rückstände aus der Produktion in Tiere oder Menschen geraten. Dem Organismus ist es nämlich unmöglich, etwa über die Nahrung aufgenommene Spuren davon auszuscheiden.

    Versuche an Nagetieren und Studien bei Fabrikarbeitern weisen auf stark krebserregende Eigenschaften hin – zudem erhöht sich die Chance auf Missbildungen bei den Nachkommen. Diese wissenschaftlichen Erkenntnisse waren dem in 90 Ländern operierenden Chemiekonzern DuPont, also den Entwicklern von PFOA, aufgrund eigener Tests und Beobachtungen schon lange vorher bekannt. Weil das Geschäft mit Teflon aber so ungemein profitabel ist, wurde (auch von DuPonts Mitbewerbern) trotzdem über Dekaden hinweg fleißig weiter produziert. Die dabei entstandenen Abfälle wurden an verschiedenen Standorten weltweit (auch in Deutschland!) tonnenweise einfach in Erdlöcher beziehungsweise in Sickergruben und Seen verklappt, von wo aus sie ins Trinkwasser gelangten.

    Bevor der Abspann von Todd Haynes‘ Justiz-Drama „Vergiftete Wahrheit“ über die Leinwand rollt, informiert eine Texttafel den Zuschauer, dass heutzutage so gut wie jedes Lebewesen auf unserem Planeten Spuren von PFOA im Blut haben dürfte – inklusive 99% aller Menschen. Sicher werden nicht alle von uns deshalb an Krebs sterben. Der Umfang dieser gewissenlos in Kauf genommenen Umweltverschmutzung und Gefährdung menschlichen und tierischen Lebens aus rein kommerziellen Gedanken ist dennoch erschütternd. Zumal die bis heute nicht verbotene Substanz nur eine von mehr als 600 ähnlichen, nicht abbaubaren Chemikalien ist, die erst seit ein paar Jahren - dank des Einsatzes des US-Rechtsanwalts Robert Bilott und anderer Aktivisten – von den Behörden überhaupt erst auf ihre Schädlichkeit hin untersucht und reguliert werden. „Vergiftete Wahrheit“ zeigt Bilotts unermüdlichen Kampf durch die US-Instanzen – ein erschütternder Film, der wach rüttelt und betroffen macht.

    Vor Gericht kämpft Robert Bilott (Mark Ruffalo) eigentlich für alle von uns!

    Der junge Wirtschaftsanwalt Robert Bilott (Mark Ruffalo) ist Partner einer renommierten Kanzlei in Cincinnati, die hauptsächlich große Chemiekonzerne vertritt. Aber dann steht plötzlich der Rinderzüchter Wilbur Tennant (Bill Camp) bei ihm auf der Matte, der in den letzten Jahren mit ansehen musste, wie fast 200 seiner Tiere elendig verreckten. Er sieht sich als Opfer der illegalen Entsorgung toxischer Abfälle des auf dem Nachbargrundstück angesiedelten Chemie-Giganten DuPont. Obwohl die Sozietät in der Regel auf der anderen Seite steht, gibt Bilotts Boss Tom Terp (Tim Robbins) ihm die Erlaubnis, sich des Falles anzunehmen.

    Doch der gegnerische Anwalt (Victor Garber) reagiert ungewöhnlich aggressiv auf eine zunächst noch freundliche Anfrage. Als Bilott bei eigenen Nachforschungen schließlich die Ausmaße der Machenschaften DuPonts und die damit verbundenen Gefahren für die Bewohner der Region sowie letztlich sogar die gesamte Menschheit aufdeckt, entwickelt sich die Angelegenheit für ihn zur Lebensaufgabe. Denn der Konzern hat unendlich erscheinende finanzielle Ressourcen zur Verfügung - und zudem die oft nur schwammig formulierten Gesetze und Regularien auf seiner Seite…

    Kein überflüssiger Schnickschnack

    Todd Haynes („Carol“) hält sich beim Nachfolger seines verträumten Mystery-Dramas „Wonderstruck“ mit inszenatorischen Kabinettstückchen angenehm zurück. Das wäre dem Thema auch nicht angemessen. So gibt es dankenswerterweise keine cleveren Kameraspielereien, keine Schwarzweiß-Sequenzen, kein gelegentlich angezogenes Tempo, kein Schnittgewitter und auch kein Durcheinanderwürfeln der chronologischen Abfolge oder andere Stilmittel, die ein Thriller-Gefühl aufkommen lassen könnten. Der Regisseur verlässt sich für die von ihm sehr gradlinig und komplett chronologisch nacherzählten Tatsachen einfach auf die durch gedämpftes Licht und einen gelegentlichen Blaufilter kreierte, drückend-düstere Atmosphäre von Bedrängung und Bedrohung sowie das Können seines großartigen Casts. Damit fährt der Amerikaner erstklassig und hinterlässt einen tiefen Eindruck beim Publikum, ohne dass dieses sich manipuliert fühlt.

    Der eine oder andere Zuschauer dürfte sich höchstens bis weit in die zweite Hälfte der Laufzeit hinein die Frage stellen, weshalb ein Weltstar vom Format einer Anne Hathaway für die bis dahin eher unscheinbare, fast schon unwichtige Rolle als Roberts Ehefrau verpflichtet wurde. Hathaways Aufgabe beschränkt sich nämlich für die ersten etwa 90 Minuten darauf, in der Küche herum zu werkeln, glaubhaft betroffen zu schauen und eine Reihe von unterschiedlichen Perücken zur Schau zu stellen. Im letzten Akt kommen Fans der Oscargewinnerin („Les Misérables“) dann aber endlich doch noch zu ihrem Recht. Ab hier ist Sarah Bilott deutlich mehr in die Handlung involviert und hat unter anderem eine lange, emotionale Monolog-Szene, die Hathaway absolut grandios und zutiefst berührend meistert.

    Hat am Ende doch noch ihren großen Auftritt: Anne Hathaway als Sarah Bilott.

    Dem zuletzt viel zu selten im Kino auftauchenden Tim Robbins hätte man ebenfalls mehr Screentime gegönnt. Hauptsächlich deshalb, weil seine Figur nahezu die einzige ist, die gelegentlich für etwas Auflockerung in dem naturgemäß deprimierenden Szenario sorgt. Doch der „Die Verurteilten“-Favorit macht aus jedem seiner Momente im Scheinwerferlicht das Beste. Er unterstützt den das Werk souverän auf seinen Schultern tragenden Mark Ruffalo auf sympathische und unterhaltsame Weise, ohne sich allzu sehr in den Vordergrund zu spielen oder gar zu versuchen, dem Protagonisten die Schau zu stehlen.

    Die Darstellung von Mark Ruffalo trifft nämlich in jeder der 127 Minuten exakt ins Schwarze. Wir erleben hier klar seine beste Performance seit „Spotlight“, wahrscheinlich sogar seit „Zodiac“ oder „You Can Count On Me“. Zu Beginn noch halbwegs locker und sorglos, wirkt der Anwalt mit dem Fortschreiten der Geschehnisse mehr und mehr, als würde er nicht nur mental, sondern auch körperlich von der Last der durch ihn entlarvten Wahrheiten erdrückt werden. Der im MCU als „Hulk“ unermessliche Kräfte besitzende Ruffalo zeigt uns auf komplett authentische Weise einen Mann, der verletzlich und mehrfach der totalen Verzweiflung nahe ist.

    Doch ein Akzeptieren der offenbaren Aussichtslosigkeit seines Unterfangens und des damit verbundenen Aufgebens seiner Ideale beziehungsweise der Hoffnungen seiner allein auf ihn angewiesenen Klienten ist einfach keine Option. Bilott, eine echte Inspiration für uns alle, wird vom Schauspieler absolut glaubhaft verkörpert. Eigentlich ist es eine Schande, dass Ruffalo – ebenso wie das hervorragende, auf einem „New York Times“-Essay von Nathaniel Rich aus dem Jahre 2016 basierende Skript von Matthew Carnahan und Mario Correa – bei den Nominierungen für die großen Awards der Saison einfach übersehen wurden.

    Ganz viel Wut

    Ebenfalls einen saustarken Eindruck hinterlässt Bill Camp. Verstand es der versierte Charaktermime in „12 Years A Slave“ oder „Skin“ noch, das Publikum den von ihm verkörperten Sklavenhändler beziehungsweise Neo-Nazi hassen zu lassen, so erzeugt er hier mit intensivem, dabei immer nuanciertem Spiel ehrliche Sorge und Mitleid für den unschuldig zwischen die Mühlen geratenen, knorrigen Kleinrancher. Camp zählt, neben den klaren, ungeschönten, oft dokumentarisch wirkenden Bildern von Kameramann Edward Lachman („Erin Brockovich), zu den zentralen Trümpfen von Regisseur Todd Haynes.

    Weit über das Rollen des Abspanns hinaus erzeugt Camp so Entsetzen und Wut auf Firmen und für sie agierende Menschen, die zynisch Gier über ihr Gewissen und die körperliche Unversehrtheit anderer stellen. Ein wichtiger Film, den trotz einiger kleiner Längen zum Schluss eigentlich jeder sehen sollte. Die Sache geht uns schließlich alle an, weil sie mittlerweile – wie schon gesagt – 99 Prozent der Bewohner des Planeten betrifft.

    Fazit: Top-Darsteller, ein exzellentes Drehbuch und die passend zurückgenommene Inszenierung sorgen beim schockierten Zuschauer für starke Emotionen. Dieses wichtige Drama wirkt wie ein Schlag in die Magengrube und ist so viel mehr als nur eine handelsübliche „David gegen Goliath“-Story.

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