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    Bones and All
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Bones and All

    Was sich liebt, das isst sich

    Von Christoph Petersen

    Seit Jahren schreien „Call Me By Your Name“-Fans nach einer Fortsetzung der vielleicht schönsten Leinwand-Liebesgeschichte der letzten 20 Jahre – und zumindest eine Zeit lang war ein Sequel ja auch tatsächlich offiziell angekündigt. Nun würde es perfekt zum trocken-makabren Humor von „Bones And All“ passen, wenn sich Regisseur Luca Guadagnino stattdessen mit voller Absicht für eine Adaption des 2015 erschienenen Romans von Camille DeAngelis entschieden hätte. Schließlich handelt es sich dabei ausgerechnet um eine Menschenfresser*innen-Coming-of-Age-Liebesgeschichte …

    … und „Call Me By Your Name 2“ ist ja vor allem deshalb vom Tisch, weil Hauptdarsteller Armie Hammer neben allerlei anderen Verfehlungen auch ungefragt Kannibalismus-Phantasien an Frauen verschickt hat. Aber wahrscheinlich ist das dann alles doch nur ein ironischer Zufall. Zumindest kommen nun diejenigen „Call Me By Your Name“-Fans, die bei einem bis auf die Knochen abgenagten Finger nicht sofort in Ohnmacht fallen, bei „Bones And All“ zumindest insoweit auf ihre Kosten, als dass Timothée Chalamet auch diesmal wieder offene und viel zu weite Achtzigerjahre-Hemden trägt (oder erneut gleich ganz oberkörperfrei herumläuft).

    Timothée Chalamet untermauert sogar als Kannibale weiter seinen Status als DER Dandy-Darsteller seiner Generation.

    Maren Yearly (Taylor Russell) ist zwar fast 18, aber nachts schließt ihr alleinerziehender Vater (André Holland) die junge Frau trotzdem noch in ihrem Zimmer ein. Natürlich denkt man da sofort an das Klischee vom (über-)fürsorglichen Papa, der nicht will, dass seine Tochter mit Jungs rummacht. Aber Pustekuchen! Worum es wirklich geht, erfährt man, als Maren eines Nachts ausbüxt, um eine Sleepover-Einladung anzunehmen. Immer näher rückt sie an ihre Schlafnachbarin heran – und man meint schon, gewisse Verliebtheits-Vibes wahrzunehmen, als Maren ihrer Mitschülerin mit einem einzigen festen Biss das gesamte Fleisch vom Finger herunterreißt.

    Für Marens Vater ist wenige Monate später der Punkt erreicht, an dem er einfach nicht mehr kann. Nachdem sie volljährig geworden ist, hinterlässt er seiner Tochter ihre Geburtsurkunde und eine selbstaufgenommene Kassette, auf der er noch mal all die „blutigen“ Ereignisse der vergangenen 15 Jahre seit dem ersten Babysitter-Zwischenfall zusammenfasst. Zum ersten Mal in ihrem Leben ist Maren auf sich gestellt. Auf der Suche nach ihrer Mutter, die sie niemals kennengelernt hat, lernt sie schnell, dass sie längst nicht die einzige mit solchen unwiderstehlichen kannibalischen Neigungen ist. Stattdessen scheint es eine ganze Menge „Esser*innen“ wie sie zu geben – und nach dem merkwürdigen Sully (Mark Rylance) trifft sie schließlich Lee (Timothée Chalamet), zu dem sie nach und nach Vertrauen fasst…

    Hier wird mehr zermatscht als nur ein Pfirsich

    In gewisser Weise ist „Bones And All“ ein Destillat aus Luca Guadagninos zwei bekanntesten Filmen: Das sommerlich-leichte Coming-of-Age-Liebesgefühl aus „Call Me By Your Name“ trifft auf den allegorischen, bei der Garstigkeit keinerlei Abstriche machenden Horror aus „Suspiria“. Sicherlich werden Gorehounds nur müde lächeln, wenn Shooting-Star Taylor Russell und der renommierte Shakespeare-Experte Mark Rylance (Oscar für „Bridge Of Spies“) an einer gerade verstorbenen alten Frau zu knabbern beginnen. Aber für einen durchaus auch auf die Arthouse-Crowd abzielenden Film ist das alles schon nicht ohne - zumindest hat sich der etwa 50-jährige Mann neben mir bei der Vorführung beim Filmfestival in Venedig andauernd die Augen zugehalten.

    Noch mehr Freude als die Gore-Momente (wenn man denn drauf steht) macht aber ohnehin der oft staubtrocken-makabre Humor. Der zündet vor allem deshalb so zuverlässig, weil der Film ansonsten so bodenständig erzählt ist. Im Kern ist „Bones And All“ schließlich ein ganz klassisches Außenseiter*innen-Roadmovie, wie man es schon oft gesehen hat – ob die Sucht nach Menschenfleisch dabei als allegorischer Platzhalter für Drogen, den Kapitalismus oder den gesellschaftlichen Konformitätszwang speziell im Reagan-Amerika der Achtziger steht, bleibt dabei angenehm offen. Die bei weitem provokanteste und am meisten zu diskutierende Szene ist dabei sicherlich die auf einem Jahrmarkt, …

    Die Chemie zwischen Taylor Russell und Timothée Chalamet gerät erst mit einer gewissen Verzögerung so richtig ins Brodeln.

    … wo sich das Paar bewusst einen homosexuellen Schausteller aussucht, weil besonders Maren niemanden mit einer Familie aufessen will. Zugleich zeigt die einzige explizite Szene des Films schwulen Sex, wenn Lee sein Opfer mit einem Handjob bis zum Höhepunkt bringt, bevor er ihm mit einem Messer die Kehle durchtrennt. Die Beziehung zwischen Lee und Maren bleibt hingegen – trotz der Menschenfress-Attacken, die ja auch immer etwas Pervers-Erotisches an sich haben – bis zum Schluss erstaunlich unschuldig. Vielleicht ist das auch so, weil die Funken zwischen Taylor Russell und Timothée Chalamet erst im letzten Drittel mit einiger Verspätung so richtig zu sprühen beginnen.

    An den Stars selbst liegt das nämlich sicherlich nicht: Während sie einer breiteren Öffentlichkeit bislang wohl vor allem als Scream Queen aus den „Escape Room“-Filmen sowie der Sci-Fi-Serie „Lost In Space“ bekannt sein dürfte, knüpft Taylor Russell hier nahtlos an ihre meisterhafte Durchbruch-Leistung aus „Waves“ an. Timothée Chalamet beweist mit seiner Dandy-Performance im abgerissenen Hawaiihemd-Hobo-Chic einmal mehr, dass sein Name nicht von ungefähr regelmäßig in einer Reihe mit James DeanRiver Phoenix und dem jungen Johnny Depp genannt wird – und dann gibt es da doch noch eine „Call Me By Your Name“-Reunion am Lagerfeuer, mit der in dieser Form sicherlich niemand gerechnet hätte…

    Fazit: Eine berührende, fantastisch aussehende Coming-of-Age-Geschichte über Außenseiter*innen in Reagans Amerika der Achtzigerjahre, bei dem die Funken zwischen dem Star-Duo zwar nicht ganz so hell sprühen wie bei „Call Me By Your Name“, die dafür aber mit reichlich blutigem Geschmatze und jeder Menge pechschwarzem Humor gewürzt ist.

    Wir haben „Bones And All“ im Rahmen des Filmfestivals in Venedig gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs seine Weltpremiere gefeiert hat.

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