Heute Abend streamen: Einer der besten Filme der letzten Jahre, der in Deutschland leider nie ins Kino kam!
Sebastian Milpetz
Sebastian Milpetz
-Freier Autor
Im Moment begeistern Sebastian vor allem smarte Horrorfilme. Ansonsten schaut er alles: von der Stummfilmzeit bis heute, vom US-Blockbuster bis zum thailändischen Kunstkino. Nur bei Superhelden ist er raus.

Die oscarnominierte Literaturverfilmung „Die Nickel Boys“ ist in Deutschland nur im Abo bei Amazon Prime Video zu sehen. Schade, denn einer der stilistisch radikalsten Filme der letzten Jahre gehört eigentlich auf die große Leinwand.

Es kommt selten vor, aber es passiert. Ab und zu dringt ein Film, der radikal mit den Sehgewohnheiten bricht, in den (Award-)Mainstream vor. Dieses Jahr gelang dies neben „Der Brutalist“ auch „Die Nickel Boys“. Das Spielfilmdebüt von RaMell Ross, der mit seiner Doku „Hale County, Tag für Tag“ schon für einen Academy Award vorgeschlagen war, erhielt eine Oscar- Nominierung als „Bester Film“. In etlichen Jahresbestenlisten von „Sight & Sound“ bis „IndieWire“ landete die Verfilmung des Pulitzer-gekrönten Romans von Colson Whitehead („The Underground Railroad“) in den Top 10.

Der Clou von „Die Nickel Boys“: Der Film besteht (fast) ausschließlich aus subjektiven Einstellungen. Wir erleben also unmittelbar durch die Augen der beiden Protagonisten Rassismus und Misshandlung in einer Besserungsanstalt. Die Story ist dabei schnell erzählt: Der junge Afroamerikaner Elwood (Ethan Herisse) landet Anfang der 1960er-Jahre in der berüchtigten Nickel Academy in Florida, weil er in ein gestohlenes Auto eingestiegen ist. Dort erlebt der schüchterne Teenager Gewalt von Mitschülern und Aufsehern, freundet sich aber auch mit dem selbstbewussten Turner (Brandon Wilson) an.

Euer Interesse ist geweckt? Dann könnt ihr euch „Die Nickel Boys“, der hierzulande leider nie im Kino lief, jetzt direkt im Abo von Amazon Prime Video anschauen:

Erster wirklich gelungener POV-Film?

Nur wenige Filme haben sich vorher konsequent an einer subjektiven Kamera versucht. Im Noir-Krimi „Die Dame im See“ (1947) nehmen die Zuschauer*innen die Perspektive von Privatdetektiv Phillip Marlowe ein. Doch das Experiment scheitert schon an der damaligen Technologie: Marlowes Arme ragen aus unmöglichem Winkel ins Bild. Schaut er in einen Spiegel, blickt seine Reflexion meilenweit an sich vorbei.

Gaspar Noé trickste bei „Enter the Void“, indem er den Protagonisten sterben ließ und die beschränkte menschliche Perspektive durch den grenzenlosen Point-Of-View eines Geistes ablöste. Anders als in der durchaus spaßigen Wackelbild-Orgie „Hardcore“ gelingen RaMell Ross bei „Nickel Boys“ elegante Kamerabewegungen. Irgendwann vergisst man die subjektive Sichtweise, die nie wie ein reines Gimmick wirkt.

Poetische Bilder im Stil von Terrence Malick

Vor allem zu Beginn, als wir den Blickwinkel des Kindes Elwood einnehmen, zaubert Kameramann Jomo Fray poetische Bilder. Ein Blatt, das der im Garten liegende Elwood zwischen seinen Fingern dreht. Die farbigen Reflexionen eines Glases auf einem Tisch. Ein Weihnachtsbaum von unten und die Oma, die spielerisch Lametta auf ihren Enkel (und damit uns) fallen lässt. Alltägliche Einblicke, die durch den POV-Kniff magisch wirken. Das erinnert an die frei fließenden Impressionen eines Terrence Malick („The Tree Of Life“). Nur ohne dessen manchmal pseudo-philosophisches Geraune aus dem Off.

Eine Kindheitsidylle, aber eine trügerische, wie wir bald erfahren. Elwood sieht in einem Schaufenster Fernseher mit einer Rede von Martin Luther King. Später schaut er sich ausführlich seinen Arm an. Als ob er zum ersten Mal realisiert, dass er eine schwarze Haut hat. Überdeutlich und nur schwer zu ertragen wird der Rassismus, als ein alter weißer Mann Elwood mit einem Stock abtastet. Ein ebenfalls weißer Polizist steht untätig daneben.

Als Elwood in der Nickel Academy landet, kippt die Atmosphäre endgültig. Statt für Offenheit stehen die subjektiven Einstellungen nun für ein Eingesperrtsein. In einer Schlüsselszene gibt die Inszenierung den POV klug auf: Als Elwood in der Folterkammer der Anstalt landet, sehen wir ihn plötzlich von hinten. Als ob seine Seele den Körper verlässt, um den Schmerz aushalten zu können.

Erst als Elwood sich mit Turner anfreundet, wird es wieder heller. Das Kennenlernen im Essensraum zeigt RaMell Ross gleich zweimal. Einmal aus Elwoods, dann aus Turners Sicht. Danach wechselt der POV immer wieder zwischen den beiden. Nur in einer großartig gefilmten Szene, in der sie sich in einem an der Decke angebrachten Spiegel betrachten, sind Elwood und Turner gemeinsam zu sehen. Bei Dialogen springen wir zwischen den Blinkwinkeln der Freunde hin- und her. So wirken auch Gespräche nie statisch.

Inspiriert von schockierender wahrer Geschichte

„Die Nickel Boys“ ist inspiriert von einer schrecklichen wahren Geschichte. An der Florida School for Boys waren zwischen 1900 und 2011 angeblich schwer erziehbare Kinder und Jugendliche untergebracht. Über hundert Schüler kamen in dieser Zeit ums Leben und wurden stillschweigend auf dem Grundstück verscharrt.

Zwischen die Handlung in der Schule montiert RaMell Ross Szenen, in denen der gealterte Elwood die Exhumierung von Leichen verfolgt. Die Kamera ist dabei konsequent hinter ihm platziert. Auf halbem Weg zwischen subjektiver und objektiver Sicht also. Den Kontrast zu der subjektiven Sicht der Figuren bilden übrigens immer wieder dokumentarische Bilder. Von Martin Luther King etwa oder Szenen aus „Flucht in Ketten“ (1958) mit Sidney Poitier und Tony Curtis, einem Meilenstein afroamerikanischer Repräsentation im Kino.

Kann man Rassismus als Nichtbetroffener durch Filme oder Bücher nachvollziehen? Diese Frage wurde in den letzten Jahren immer wieder kontrovers diskutiert. RaMell Ross versucht es mit „Die Nickel Boys“ zumindest, indem er uns die Welt aus der Sicht von Betroffenen zeigt. Und das auf virtuose Art und Weise.

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