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    Oxygen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    2,0
    lau
    Oxygen

    Netflix liefert die Science-Fiction-Antwort auf "Buried"

    Von Sidney Schering

    Der französische Regisseur und Drehbuchautor Alexandre Aja machte sich in den 2000ern mit seinen blutigen Horrorfilmen „High Tension“ und „Mirrors“ auch international einen Namen. Mittlerweile setzt Aja jedoch kaum noch auf die rote Flüssigkeit. Im wenig beachteten „Das neunte Leben des Louis Drax“ stürzt sich Aja stattdessen etwa in die Gedankenwelt eines im Koma liegenden Jungen, der sich wundert, was genau ihm wohl widerfahren ist. Im Tierhorror „Crawl“ wiederum sehen sich ein Vater und seine Tochterin einem beengten überfluteten Keller mit einer Horde Alligatoren konfrontiert.

    In gewissen Weise ist der von Netflix produzierte Sci-Fi-Thriller „Oxygen“ nun Ajas konsequente Kombination dieser beiden Filme: Die von „Inglourious Basterds“-Star Mélanie Laurent gespielte Protagonistin steckt in einer winzigen Kammer fest – und weiß nicht einmal mehr, wer sie eigentlich ist, weshalb sie wie der Junge im Koma angestrengt in ihren Erinnerungen kramt. Leider ist aber auch der Film um sie herum nicht sonderlich erinnerungswürdig.

    Klaustrophobie in ihrer reinsten Form

    Eine zunächst namenlose Frau (Mélanie Laurent) erwacht in einer futuristischen kryogenischen Schlafkammer und weiß nicht, wie sie dort eigentlich hineingekommen ist. Sie hat nicht mal eine ungefähre Idee davon, wo genau sie sich befindet, geht aber davon aus, dass es sich um irgendeine Art von Krankenhaus handeln müsse. Doch als sie um Hilfe ruft, meldet sich lediglich das Computersystem der Kryokammer (Stimme im Original: Mathieu Amalric).

    Nach und nach wird der Frau bewusst, dass dieses System wenig hilfreich ist – so verlangt der Computer zum Öffnen der Kammer nach einem Code, den sie aber nicht hat. Sie weiß schließlich nicht einmal, wie sie selbst heißt. Und zu allem Überfluss sinkt der Sauerstoffvorrat in ihrem winzigen Gefängnis rapide, wie eine gnadenlos tickende Anzeige neben ihrem Kopf verrät. Fieberhaft versucht die Frau, hinter das Geheimnis ihrer Identität und ihrer Gefangenschaft zu kommen, während die zunehmende Panik dafür sorgt, dass der Sauerstoff noch schneller zu Neige geht…

    Die kryogenische Schlafkammer wäre wahrscheinlich selbst dann noch klaustrophobischer Horror, wenn alles nach Plan laufen würde - aber genau das tut es in "Oxygen" ganz und gar nicht...

    „Oxygen“ weckt unweigerlich Erinnerungen an den viel besprochenen Kammerspiel-Thriller „Buried“ mit Ryan Reynolds, dem als lebendig begrabendem Protagonisten ebenfalls nur wenig Zeit bleibt, um seine potenziellen Retter vor dem endgültigen Ausgehen des Sauerstoffs zu sich zu führen. In „Oxygen“ mag Mélanie Laurent anstelle des „Deadpool“-Stars nach Luft ringen – und sie tut dies auch nicht in einem Sarg, sondern in einer Kryokammer. Dennoch sind die Parallelen zumindest zu Beginn sehr deutlich – zumal die Hauptfigur in beiden Filmen mittels Telefonaten versucht, Kontakt zur Außenwelt aufzunehmen, was sich allerdings aufgrund zahlreicher Hindernisse als zunehmend frustrierendes Unterfangen herausstellt.

    Während in Rodrigo Cortés' „Buried“ kontinuierlich das Gefühl der Beengung dominiert und es keinerlei Ausbrüche aus dem dunklen Grab gibt, ist „Oxygen“ stärker aus der subjektiven Wahrnehmung seiner Protagonistin erzählt. Wie Ryan Reynolds‘ Figur fühlt auch sie sich wie in einem engen Gefängnis, was Aja mit effektiv-klaustrophobischen Einstellungen erfahrbar macht: Er lässt die Kamera immer wieder unangenehm nah an Laurent heranrücken, während sich die Kryokammer an den Rändern mit all ihren Schaltern, Hebeln, Knöpfen, Schläuchen und Touchscreens mit unbekannten Funktionen immer mehr zu einem schwarzblauen, bedrückenden Nichts verzerrt. Jedoch gibt es ebenso Phasen, in denen der Zuschauer gemeinsam mit den Gedanken der Heldin kurzzeitig aus der Kammer entfleucht.

    Pure Panik

    Immer wieder blitzen Bilder auf, in denen sich Laurents Figur schmerzverzerrt in der nun nicht mehr sanft-weißlich, sondern knallrot beleuchteten Kammer windet, so als würde sie sich ihren drohenden Erstickungstod bereits vorstellen. An anderer Stelle wird ihre Suche nach Erinnerungen durch weichgezeichnete Rückblenden (oder sind es Tagträume?) visualisiert. Und wenn die Protagonistin in einem Moment purer Panik alle bisherigen Indizien zu ihrem Aufenthaltsort, ihrer Identität und dem Auslöser ihrer misslichen Lage kombiniert, wirbelt die von Maxime Alexandre („Shazam!“) geführte Kamera trotz des beengten Raums vogelwild um den Kopf der verwirrten Heldin. So verdeutlichen der belgische Kameramann und Aja ebenso simpel wie effektiv das Gefühl, dass der angsterfüllten Protagonistin sprichwörtlich der Kopf kreist.

    Diese Nähe zur Wahrnehmung der Protagonistin kommt dem Film so lange zugute, wie er aus den vielen offenen Fragen Spannung zieht: Wo ist unsere Heldin? Warum ist sie dort? Wer ist sie überhaupt? Und wieso sind die Menschen, die sie per Telefon erreicht, so wenig hilfreich? Aber sobald Drehbuchautorin Christie LeBlanc die Antworten nachreicht, kracht die Spannungskurve erst einmal in sich zusammen. Etwa nach der Hälfte des Films werden gleich mehrere der brennenden Fragen gelöst, so dass „Oxygen“ in der zweiten Filmhälfte von Neuem an Fahrt aufnehmen müsste – nur diesmal eben ohne das zentrale Mystery-Element als Motor. Dadurch, dass Laurents Figur weniger grundsätzliche Rätsel zu lösen hat, stabilisiert sich zudem zeitweise ihr Gemütszustand, was zugleich zu einer weniger abwechslungsreichen Bildsprache führt: Dieses Zurückfahren der inszenatorischen Tricks macht es Aja nur noch schwerer, die Spannungskurve erneut anzukurbeln.

    Der Countdown der Sauerstoffanzeige zählt erbarmungslos runter…

    Darüber hinaus sind die neuen Fragen weniger ergiebig. Aus Spoiler-Gründen wollen wir an dieser Stelle nicht konkreter auf die inhaltlichen Schwerpunkte der zweiten Filmhälfte eingehen, daher sei nur vage festgehalten: Aus dem Konvolut an „Was ist los?“-Fragen formieren sich schließlich eine Reihe von ethischen Dilemmata, die sich aus der Situation der Protagonistin ergeben. Diesem potenziell hochspannenden Themenkomplex wird jedoch vom an dieser Stelle arg schlichten Drehbuch einfach nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt.

    Zu Beginn dreht sich also alles um die Frage: „Was ist hier eigentlich los?“ – und das ist auch durchaus spannend. Aber wenn es dann ans Eingemachte geht, gibt „Oxygen“ nicht nur seinen Reiz als Suspense-Kammerspiel auf, sondern wird zudem auch den angerissenen moralischen Fragen nicht gerecht. Selbst mit seiner Laufzeit von überschaubaren 101 Minuten ist er deshalb spürbar länger, als es die Prämisse eigentlich hergibt. „Buried“ bleibt in diesem sehr spezifischen Subgenre des Lebendig-begraben-und-bald-geht-die-Luft-aus-Thrillers damit der deutlich knackigere und auch einfach bessere Vertreter.

    Fazit: Alexandre Ajas „Oxygen“ ist ein Kammerspiel-Thriller, der seine Prämisse überdehnt und sich obendrein an ethischen Fragen verhebt, denen er aufgrund seines beengten erzählerischen Rahmens ohnehin kaum gerecht werden kann.

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